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„Omar hat mich getöten“

Wegen Mordes an seiner Arbeitgeberin wurde ein marokkanischer Gärtner zu 18 Jahren Haft verurteilt / Einziger Beweis ist eine blutige Inschrift / Heute beginnt das Berufungsverfahren  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der Satz war orthographisch eindeutig falsch. Aber er war mit Blut geschrieben und prangte an der Garagenwand direkt neben einer entsetzlich zugerichteten Leiche: „Omar m'a tuer“ – Omar hat mich getöten. Die Tote, die am 24. Juni 1991 von der Polizei auf dem Anwesen in Mougins an der französischen Riviera gefunden wurde, war die Millionärswitwe Ghislaine Marchal. „Omar“ – das war der Vorname ihres marokkanischen Gärtners Omar Raddad, der vor einem Jahr prompt zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Heute beginnt in Nizza das Berufungsverfahren.

Wie kaum ein Kriminalfall der letzten Jahre hat der Mord in dem diskreten Nobelort Mougins die französische Öffentlichkeit bewegt. Der Gärtner, der zum Tatzeitpunkt 28 Jahre alt und gerade zum zweiten Mal Vater geworden war, hat seine Schuld stets bestritten. Immer wieder beschrieb er den Geschworenen sein gutes Verhältnis zu der Toten – „Madame Marchal war wie eine Mutter zu mir“ –, mehrfach trat er in den Hungerstreik. Er stellte zahlreiche Haftentlassungsanträge und schrieb rührende Briefe an die Richter – beziehungsweise ließ sie schreiben, denn Omar Raddad ist Analphabet.

Bis heute gibt es keinen Beweis gegen den Verurteilten, keine Tatwaffe, keine Fingerabdrücke, keine Zeugen. Gegen ihn spricht, daß er an dem fraglichen Sonntag im Juni 1991 im Garten einer Nachbarin und Freundin der Ermordeten arbeitete und eine einstündige Mittagspause einlegte, in der er auf seiner Solex zu seiner Wohnung in Cannes gefahren sein will. Omar Raddad hat kein Alibi. Wenige Stunden, nachdem am nächsten Tag die Leiche gefunden wird, verhaftet ihn die Polizei.

Seither wurde die Suche nach anderen Verdächtigen eingestellt, lautet der Vorwurf zahlreicher französischer Intellektueller und Anwälte. Systematisch war der Gärtner zum Schuldigen gemacht worden. In Ermangelung von Beweisen wurde er persönlich demontiert. Polizei und Justiz stürzten sich darauf, daß Omar Raddad Glücksspiele mache und deswegen verschuldet sei – was stimmte. Daß er ein schlechter Familienvater sei, weil er Prostituierte frequentiere – was nie bestätigt werden konnte. Daß er ein Lügner sei, weil er viel besser Französisch spreche, als er behaupte – was den Tatsachen widerspricht. Für die Familie der Ermordeten stand Omar Raddads Schuld von vornherein fest. Ghislaine Marchals FreundInnen und NachbarInnen hingegen, die örtliche Bourgeoisie von Mougins, die den Gärtner seit Jahren kannte, glauben an dessen Unschuld.

Wenige Tage nach der Tat wurde die Tote eingeäschert – mit Genehmigung der Untersuchungsrichterin. Niemand hatte vorher ihre Finger vermessen, die doch den Satz „Omar hat mich getöten“ an die Wand geschrieben haben sollen. Auch der Laborvergleich ihres Blutes mit dem der Inschrift an der Wand war ausgeblieben. Erst Monate später tauchte die Frage auf, ob die am ganzen Körper mit Messern und stumpfen Gegenständen schwer verletzte Ghislaine Marchal überhaupt noch in der Lage gewesen sein kann, mit ihrem eigenen Blut an die Wand zu schreiben und dann an eine andere Stelle der Garage zu robben, an der sie starb.

Unerklärlich blieb auch, warum die Untersuchungsrichterin gestattet hatte, daß der letzte Film aus dem Fotoapparat der Ermordeten kurz nach der Tat belichtet wurde. Warum nie Nachforschungen über die Finanznöte des Sohnes der Ermordeten angestellt wurden. Warum niemand nach dem Verbleib ihres Vermögens fragte. Und – vor allem – warum das prominenteste Familienmitglied von Ghislaine Marchal, ein inzwischen verstorbener Unternehmer mit Verwicklungen in verschiedene Geheimdienste, in dem Verfahren nicht einmal namentlich auftauchte. Weder jener Gilbert Beaujolin, Schwager der Ermordeten, noch seine Frau Christiane, immerhin ihre Schwester, wurden von dem Gericht behelligt.

Die Richter waren von der Schuld des Angeklagten so überzeugt, daß sie sechseinhalb Stunden lang hinter verschlossenen Türen auf jene Geschworenen einredeten, die zu einem Freispruch neigten. Einer von ihnen berichtete anschließend einer Wochenzeitung von der Rechtsbeugung.

Einer der Verteidiger des marokkanischen Gärtners, der streitbare Anwalt Jacques Vergés, der auch das Berufungsverfahren durchboxte, nennt den Fall eine „zweite Affäre Dreyfus“ – 100 Jahre nachdem jener Offizier zu Unrecht wegen Spionage verurteilt wurde, weil er Jude war, sei Omar Raddad verurteilt worden, „weil er Nordafrikaner ist“.

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