Berlin auf russisch

■ Neue Broschüre der Ausländerbeauftragten über das russische Berlin / Berühmte Immigranten: Nabokov und Ehrenburg

„...auf Schritt und Tritt hörte man russisch reden. Dutzende von russischen Restaurants öffneten ihre Pforten: mit Balalaikas, mit Zigeunern, mit Gerstenfladen, mit Schaschliks und natürlich mit dem obligaten Sprung in der Seele. Es gab ein Kleinkunst-Theater. Es gab drei Tageszeitungen und fünf Wochenblätter...“ Nein, das heutige Berlin ist damit nicht gemeint. Zwar hört man wieder auf Schritt und Tritt russisch reden, zwar kriegt man hier wieder Gerstenfladen und Sprünge in der Seele, zwar gibt es die russisch- jüdische Theatergruppe „Grimassa“, aber nur eine russische Zeitschrift: Evropacentr.

Was der Schriftsteller Ilja Ehrenburg hier beschrieben hat, war das brodelnde „russische Berlin“ der zwanziger Jahre. „Das russische Berlin“, so heißt auch die von der Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John herausgegebene brandneue Broschüre, der die folgenden Fakten entnommen sind. Erscheinungsanlaß ist das ein bißchen einfallslos genannte Kulturprojekt „Moskau–Berlin/Berlin– Moskau“. Mit diesem Projekt wollen beide Metropolen in diesem und dem nächsten Jahr im Rahmen ihrer Städtepartnerschaft ihre vielfältigen Beziehungen dokumentieren.

Ehrenburg war in den zwanziger Jahren ein „Immigrant auf Zeit“, der seine Romane auf einem Tischchen in der legendären „Prager Diele“ am Prager Platz schrieb. Vor zaristischer Verfolgung geflohen, lebte er in Berlin und Paris, bis er in die Sowjetunion zurückkehrte. Wie viele vor dem Zarenreich oder der Revolution und dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflüchteten RussInnen in Berlin lebten, ist bis heute nicht genau geklärt. An die hunderttausend werden es wohl gewesen sein, zeitweilige Asylsuchende nicht mitgerechnet.

Ehrenburgs Schriftstellerkollege Vladimir Nabokov hingegen wurde 1922 auf dem hiesigen russischen Friedhof in Tegel begraben, nachdem er bei einer politischen Veranstaltung einem Attentat zum Opfer gefallen war. Der der Oktoberrevolution entronnene Liberale hatte hier die wichtigste Emigrantenzeitung herausgegeben: Rul, „Das Steuer“. Zu Weltenruhm gelangte er nicht mehr, sondern sein gleichnamiger Sohn. Sein „Lolita“-Buch erreichte Millionenauflage, und erst jüngst geriet Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki ob der Lektüre seines humoresken Romans „Pnin“ ins Schwärmen.

Nabokov lebte bis 1937 in Berlin. Unter den Nazis wurden viele der EinwanderInnen deportiert und ermordet, andere emigrierten zum zweiten Mal, wieder andere lebten auf. So eine Gruppe radikaler Monarchisten um die antisemitische Zeitung Nowoje Slowo (Das neue Wort), die den Nationalsozialismus unterstützten, um nach dem erhofften Sieg über den Bolschewismus in ihre Heimat zurückkehren zu können. Ihr Pech: Die Nazis mißtrauten ihnen kaum weniger als den sowjetischen Kriegsgefangenen, die in den „Russenlagern“ am Bahnhof Beusselstraße oder in der Greifswalder Straße unter entsetzlichen Bedingungen lebten.

Bis die Rote Armee kam. Deren zwiespältige Rolle wird in der Broschüre nicht verschwiegen. Die Soldaten kamen als Befreier, aber auch als Vergewaltiger. Helke Sanders (und nicht Helma Sander- Brahms, wie in dem Heft fälschlich verzeichnet) schätzte in ihrem Film „BeFreier und BeFreite“, daß im Frühjahr 1945 mindestens 110.000 Berlinerinnen vergewaltigt wurden. Sie wagt die These, daß das allseitig verhängte Schweigen über dieses Verbrechen die deutsche Russen- und Ausländerfeindlichkeit heftig verstärkt hat.

Und heute? Was in der lesenswerten und für zwei Mark im Büro der Ausländerbeauftragten erhältlichen Broschüre nicht vorkommt, sind die Zehntausende von RussInnen, die sich inzwischen illegal in der Stadt aufhalten. „Auf Schritt und Tritt hört man russisch reden...“, es ist wieder wahr geworden. Ute Scheub