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Die Sense neu interpretiert

Weil echte Maloche Erfolg bringt, will der BVB, vom 2:0 über Rom ermutigt, im UEFA-Halbfinale nun Juve oder Parma abgrätschen  ■ Aus Dortmund Bernd Müllender

Die Erleichterung war Ottmar Hitzfeld bis in die letzte Faser seiner Gesichtszüge anzusehen. Nur der Mund war nach wie vor dünn wie ein Strich, dafür wollte er nicht mehr stillstehen. Ohne Punkt und Komma dozierte der Borussen- Trainer über die Heldentaten seines Ensembles: Von großem Selbstbewußtsein war da die Rede, kämpferisch meisterhaftem Vorgehen, von der Neuinterpretation taktischer Rollenzuweisungen, von Siegermentalität, Mut, Biß, Trotzreaktion, von unübertrefflicher Moral. Was war zuvor geschehen? 90 Minuten lang waren seine von den letzten Mißerfolgen tief verunsicherten Kicker umhergestolpert und hatten dabei modernen Fußball geboten: nämlich „ureigene Borussen-Tugenden“ gezeigt, so Hitzfeld. Das heißt: pausenlos geackert, gewütet, gesenst, gegrätscht, gebolzt und den Ball meist lang und weit nach vorne geschlagen. „Kick and rush“ heißt das bei den Briten, „Vorteil durch Raumgewinn“ beim American Football.

Lazio ließ den Ball vor allem in der ersten Halbzeit momentweise fein laufen – „ganz gefährliche Konter“ waren das, „wie an der Schnur gezogen“ (Hitzfeld). Am Ende aber stand ein 2:0 für die Bierstadt-Borussen und damit die Runde der letzten Vier im Millionengeschäft UEFA-Pokal.

Somit wird nun heftig durchgeatmet: Ein Ausscheiden im UEFA-Cup hätte der nach einer blendenden Bundesliga-Hinrunde überschätzten Mannschaft noch weitere tiefere Furchen in die Seele gebrannt und womöglich irreparable Schäden bei der Realisation schwarz-gelber Meisterschaftsträume angerichtet. Der Erfolg aber könnte nun alle Verkrampfungen und Irritationen der letzten Wochen mit einem Schlag verschwinden lassen.

Wie das so ist: Im Leben auf Messers Schneide spielt dann ein einziger winziger Moment Schicksal. Beim 0:1 im Hinspiel waren die Dortmunder chancenlos gewesen, ja „selten in der jüngeren Vergangenheit spielerisch so vorgeführt worden“ (Stadionzeitung). Diesmal stellt eine lottohafte Glücks- und Zufallskombination in der 10. Minute die Weichen: Aus großer Distanz schießt der Spieler Chapuisat. Nicht besonders eindrucksvoll, halbhoch und genau auf den Torwart. Doch der läßt blackoutös abprallen. Der Spieler Riedle (ausgerechnet Riedle, früher Lazio) bekommt die Kugel und läuft auf den Torwart zu. Dann spielt er den Ball weit vorbei und springt genau dahin, wohin der fallende Torwart die Arme wirft. Ein Foul? Dieser Schiedsrichter meint ja und dokumentiert Entschlossenheit durch eine rührend theatralische Geste am Elfmeterpunkt. Strafstoß also. Der Spieler Chapuisat läuft an, schießt dahin, wohin der fallende Torwart seine Arme wirft. Der Ball prallt dagegen, aber nicht ganz dagegen, sondern nur ab und dann hoch und – ins Netz.

Foul hier, Schwalbe da. Dieser Schiedsrichter pfeift jede kleinste Attacke ab. Und im Zweifelsfall immer und immer wieder für die Hausherren. Freistoß folgt auf Freistoß auf Foul auf Foul. Zwei dramatische Strafraumsituationen vor dem Borussen-Kasten, aber dieser Schiedsrichter meint: Kein Foul, kein Elfmeter für Lazio. Der grippegeschwächte Möller wirkt, als habe er bei jedem Paß noch einen Schluckauf. Grätschenmeister Sammer, sehr defensiv meist, interpretiert den Libero wie Vogts früher den Verteidiger.

Erst in den Schlußminuten, nach der ersten richtigen Borussen-Torchance (Krees kerniger Kraftkracher), werden die Gastgeber klar überlegen. In der letzten Spielminute fliegt der übelste römische Treter, der argentinische Nationale Chamot, gelbrot vom Platz. Den Freistoß tritt der Spieler Chapuisat, im Fünfmeterraum rutscht der Ball über die Stirn des Spielers Air Riedle (ausgerechnet Riedle, früher Lazio) und von dort ausgerechnet ins Tor. 2:0 – ungläubiger Jubelorkan. Schwarz-gelbe Verzückungen. Heiße Glückseligkeit in eiskalter Nacht. Schlußpfiff. Fassungslose Römer.

Knapp 40.000 im überfüllten Stadion jauchzen sich in einen Rausch, weil jetzt der nächste abzugrätschende Gegner kommt (Juve, Parma?). Dann geht die Kampfeslust um jeden Meter Raumgewinn wieder von vorne los. Bis Hitzfeld eines Tages nicht mehr nur vollmundig redet, sondern volle Lippen hat.

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