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Das Manhattan-Projekt

Streifzüge durch eine europäische Stadt, die auf dem Weg in die Zukunft ins Straucheln kam  ■ Von Alois Berger

Wenn eine Stadt so aussieht wie Brüssel, sinnierte kürzlich der belgische Soziologe René Schoonbrodt, dann gebe es dafür selten nur einen einzigen Grund. Da müsse einiges zusammengekommen sein. Im Zentrum, rund um das touristische Prunkstück Groter Markt, einen der schönsten Barockplätze überhaupt, fällt die Verwaltungshauptstadt Europas in sich zusammen. Mehr als die Hälfte aller Häuser in der Innenstadt steht leer. Gleich gegenüber der berühmten Brauerei „La Mort Subite“, in bester Innenstadtlage, hat sich eine verwinkelte Szenekneipe mit Mauerdurchbrüchen unter fünf Häusern durchgegraben. Im ganzen Viertel wohnt niemand mehr, der sich darüber hätte aufregen können.

Ganze 35.000 Menschen leben noch innerhalb des Stadtringes, früher waren es einmal über 180.000. Nicht Yuppies, die jungen Erfolgreichen aus dem Dunstkreis der Europäischen Verwaltung, sondern die sozial Deklassierten hausen in der heruntergekommenen Stadtmitte, Nordafrikaner, Arbeitslose, Mindestlöhner, die auf billigste Mieten angewiesen sind. Viele sparen, um wegzuziehen, wegzuziehen aus dem Ergebnis irrwitziger Architektenphantasien, die Brüssel eine verödete Innenstadt beschert haben, ein paar Dutzend unfertiger Wolkenkratzer und ein Spinnennetz sechsspuriger Schnellstraßen. Und Metro- Stationen von den Ausmaßen unterirdischer Kathedralen, in denen sich selten mehr als ein Dutzend Menschen verlieren.

Wer den Niedergang Brüssels verstehen will, wird sich zuerst auf die Suche nach dem Fluß machen müssen, an dem die Stadt einmal lag. Auf die Suche nach verwischten Spuren, denn die Brüsseler Gemeinden haben die Zenne zubetoniert, haben sie wieder ausgegraben, umgeleitet und wieder zubetoniert. So wie sie übrigens auch den Moolenbeek und den Etterbeek, den Maalbeek, den Schaerbeek und all die anderen Bäche verscharrt haben, deren Namen nun die Stadtteile tragen, in denen es aber keine Bäche mehr gibt.

Die Pont de la Carpe, die Karpfenbrücke, ist ein kurioser Name für eine Straße, eine Häuserschlucht, in der es nichts gibt, woran sich die Vorstellung von einem Fluß festmachen ließe. Genauso geht es dem Quai au Bois à Bruler, dem Feuerholzkai, oder dem Heukai. Bei der Kirche St. Géry, die früher einmal auf einer Insel zwischen zwei Seitenarmen der Zenne stand, windet sich in einem Hinterhof noch ein etwa vierzig Meter langer Graben, eingefaßt von Backsteinmauern und von den Denkmalschützern vor kurzem nett herausgeputzt. Doch drei Meter tief unten, auch hier statt Wasser nur eine geschlossene Betonfläche.

In der Kirche St. Cathérine, die ein paar hundert Meter weiter im ehemaligen Flußbett steht, sind am Eingang ein paar Erinnerungsfotos ausgehängt von abgetakelten Dreimastern, die am benachbarten Backsteinkai festgemacht haben, genau dort, wo heute die traditionsreichen Fischrestaurants im Sommer ihre Tische aufs Pflaster stellen. Alle paar Minuten zittern die Weingläser ganz leicht, weil unter der Erde, im früheren Hafenbecken, inzwischen die U-Bahn fährt.

Es ist der Mut zu radikalen Lösungen, mit dem die Brüsseler ihre einst prächtige Stadt zerstört haben. Der Museumswächter im Stadthaus am großen Platz, der die Ausstellung alter Stiche und Stadtpläne beaufsichtigt, kann sich heute noch darüber aufregen, wie sehr die Zenne damals die Bevölkerung drangsaliert hatte. Morastige Überschwemmungen, Cholera und Ruhr habe sie über die Stadt gebracht, bis die Stadtväter 1870 endlich beschlossen, den Fluß mitsamt seinem Gestank und den Stechfliegen wegzusperren. Es war die Zeit, als überall in Europa die für Armut und Enge typischen Krankheiten ausbrachen. In Städten wie Hamburg, London oder Paris führte der Leidensdruck damals zum Ausbau der Kanalisation.

In Brüssel wurde eine Gesellschaft zur Überdeckung der Zenne gegründet, und weil der Fluß in Mäandern durch die Stadt floß, wurde er erst noch begradigt und dann abgedeckt wie ein totes Tier. Damals wurde die erste große Schneise in die dichte Bebauung gefräst. Von Nord nach Süd zieht sich seitdem ein schnurgerader Boulevard durch die Stadt, breit und mit hohen, einstmals eleganten Bürgerhäusern, denen anzusehen ist, wie stark die Brüsseler nach Paris schielten. So wie die Mehrheit der hauptstädtischen Flamen damals die Sprache ablegte und Französisch lernte, weil das der Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg war, so verschwanden auch die kleinen flämischen Giebelhäuser aus dem Stadtbild. Flämisch sind heute noch die Familiennamen und die Bebauung in den Nebenstraßen. Brüssels Fassade ist französisch.

Zusammengehalten wird die Stadt noch immer von der Zenne. Der Fluß, der heute verzweigt unter der Stadt durchfließt, ist der Hauptstrang der Brüsseler Kanalisation. Dort, wo die Zenne im Süden, verschämt zwischen Autobahnzubringer und Industriegelände versteckt, in den Untergrund abgedrückt wird, baut Brüssel zur Zeit seine erste Kläranlage. Die zweite entsteht im Norden der Stadt. Sie wird erst einige Jahre später fertig sein, weil sie größer und stärker sein muß. Sie soll die Zenne klären, die dort mit den gesammelten Fäkalien der Millionenstadt an die Oberfläche zurückkehrt.

In den fünfziger Jahren war die Zenne vom Hauptboulevard in die Seitenstraßen verlegt worden, weil ihr Bett für die Metro gebraucht wurde. Ein Nebenarm, der bis dahin noch offen durch die Weststadt fließen durfte, wurde bei dieser Gelegenheit gleich mit vergraben. Die Wochenzeitung Germinal schrieb am 10. April 1955: „In einigen Tagen können die Bürger unter keiner Brücke mehr die Zenne vorbeifließen sehen, sie können sich nicht einmal mehr damit trösten, daß sie unter ihrem Hauptboulevard dahinfließt. Sie wird nur noch ein zehn Kilometer langer Abwasserkanal sein. Nur noch die Ratten werden sehen, was über Jahrhunderte ein klarer, reizender Fluß war, auf dem die Schiffe in die Stadt kamen.“

Die Verantwortlichen hatten für solche Sentimentalitäten kaum Verständnis. Es begann gerade die Zeit der großen Projekte, und die Planer der wichtigsten Baugesellschaften waren dabei, eine Stadt ohne Einwohner zu entwerfen. Die Faszination der Silhouette von Manhattan schwirrte in den Köpfen herum. Aber nur die Silhouette, mit der Buntheit Manhattans hatten sie nichts am Hut. Brüssel sollte eine saubere Stadt werden, eine Stadt für gehobene Angestellte, die abends zu ihren Familien nach Hause fahren. Und das Zuhause sollte nicht in der Stadt sein, sondern im Umland, wo es reichlich Wasser und Grün gibt, wo die Welt noch in Ordnung ist und wohin die Mittelklasse ohnehin drängte. Zwei Ereignisse fielen in diese Zeit und beschleunigten die Zerstörung der Stadt. In Vorbereitung für die Weltausstellung von 1958 wurde eine zweite riesige Schneise durch die Stadt geschlagen, diesmal um die beiden weit auseinander liegenden Kopfbahnhöfe Nord und Midi durch unterirdische Schienenstränge zu verbinden. Wieder wurde auf einer Breite von fünfzig Metern alles weggerissen und über dem Schienentunnel ein moderner Boulevard angelegt. Seitdem zerschneidet ein Straßenzug mit kafkaesk einschüchternden Verwaltungskästen Brüssel in eine Ober- und eine Unterstadt. Eine unwirtliche Grenze, die niemanden zum Überschreiten einlädt.

Im Jahr der Weltausstellung fiel dann auch die Entscheidung, die Europäischen Gemeinschaften in Brüssel anzusiedeln, ein Ereignis, das den Fortschrittsglauben der Stadtplaner beflügelte und sie geradewegs ins Delirium katapultierte. Sie sahen Brüssel als künftiges Zentralhirn Europas, wo Politik und Wirtschaft ihre Hauptverwaltungen ansiedeln würden. Die Vorstellungen von Manhattan und vom idyllischen Landleben der Angestellten vergoren zum Konzept der reinen Bürostadt mit einem Wohnring außenherum. Die Innenstadt sollte ausschließlich für Geschäftsräume reserviert sein, wohnen kann man schließlich überall in Belgien. Brüssel ist nirgends weiter weg als eineinhalb Stunden.

Ähnliche Ideen gab es auch anderswo in Europa. Aber in Brüssel kam ihnen entgegen, daß es keine einheitliche Stadtverwaltung gibt, sondern nur einen losen Verbund von 19 selbständigen Gemeinden. 19 ehrgeizige Kleinstädte, 19mal Kirchturmpolitik ehrenamtlicher Gemeinderäte für eine Millionenstadt. Und 19mal die Gier nach Gewerbesteuer. Denn die Steuern der Unternehmen gehen an die Gemeinden, während die Lohn- und Einkommensteuer, die am Wohnort anfällt, der Staat kassiert. An Einwohnern hatten die 19 Gemeinden deshalb kein Interesse. Sie wollten Kasse machen, und dafür brauchten sie Unternehmen und Räume für diese Unternehmen auf ihrem Gebiet.

Das Ergebnis ist am schönsten rund um den Nordbahnhof herum zu besichtigen. Die Gemeinden St. Josse, Schaerbeek und Alt-Brüssel hatten 1967 das Rennen gemacht und das Manhattan-Projekt, wie es inzwischen offiziell hieß, an Land gezogen. Weil dem für Städtebau zuständigen Bürgermeister von Alt-Brüssel, Paul Van den Boeynants, die ursprünglich vorgesehenen 13 Hochhäuser zu popelig waren, wurde der Plan auf 48 aufgestockt.

Den Takt gab die Baugruppe De Pauw vor, die 53 Hektar dichtbebautes Gebiet aufkaufte, die Bewohner umsiedelte und die Häuser abriß. Eines der belebtesten Stadtviertel Brüssels verschwand vom Erdboden. Kanadische Architekten prägten später den Begriff Brüsselisation, womit gemeint ist, in einer guterhaltenen Stadt so zu planen, als ob ein Krieg alles zerstört hätte.

Als besondere Aufmerksamkeit für die Tagesbesucher sollte das ganze Stadtviertel einen doppelten Boden bekommen. Die Straßen für die Autos und 13 Meter darüber eine Plattform für die Fußgänger. Aber das Projekt kam ins Stocken, die Nachfrage nach Immobilien entwickelte sich trotz der Erweiterung der europäischen Institutionen nur sehr langsam. Gerade mal etwas mehr als ein halbes Dutzend Hochhäuser wurde bisher an der Manhattanstraat fertiggestellt. Die Bauwerke, die mit „hoch und viereckig“ ausreichend beschrieben sind, wirken auf dem riesigen Areal ziemlich verloren. Die 102 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Center in der Mitte, mit ihren 13 Meter hohen Halskrausen für die Fußgängerebene, liefern den allerletzten Beweis, daß Brüssel nicht in Amerika liegt und daß kleine Hochhäuser mit großen Namen etwas Lächerliches an sich haben.

Mangels anderer Interessenten hat sich die Stadtverwaltung selbst in einen Teil der Gebäude eingemietet, um die Investoren vor dem Bankrott zu bewahren. Sehr zum Verdruß der Bauherren hat die Europäische Union kein Interesse, sich in den leerstehenden Geschoßflächen des Manhattan-Projektes auszubreiten. Die europäischen Institutionen sitzen westlich der Stadt. Seit 30 Jahren arbeitet sich der Verwaltungsmoloch in permanenter Bauwut vom weit außerhalb liegenden Rondpoint Schumann in Richtung auf die Stadt zu. Alle paar Jahre verschwinden einige Häuserzeilen, um neuen erdrückenden Mammutklötzen Platz zu machen. Wo früher das Quartier Léopold war, entsteht zur Zeit ein Parlamentsgebäude, dessen bisher fertiggestellte Teile bereits die Stadt überragen. Der überdimensionale Beton- und Glaspalast ist neben Luxemburg und Straßburg übrigens der dritte, den sich das Europaparlament bauen läßt. Bauherr ist in allen drei Fällen aber nicht das Parlament, sondern die jeweilige Stadt, die das Europaparlament damit endgültig an sich binden will.

An den Vernichtungsfeldzügen im übrigen Brüssel ist die Europäische Union weitgehend unschuldig. Der Platzbedarf der EU habe zwar die Phantasie von Planern und Spekulanten angeheizt, meint René Schoonbrodt von der Bürgerinitiative Arau (Atelier de Recherche et d'Action Urbaines). Aber die Zerstörung der Stadt habe lange vorher begonnen und sei von den Gemeinden hausgemacht. Arau ist 1969 aus dem Entsetzen über das Manhattan-Projekt entstanden und seither so etwas wie das urbane Gewissen von Brüssel.

In einer Stadt, deren demokratische Institutionen vom permanenten Konflikt zwischen französisch- und flämischsprachiger Bevölkerung lahmgelegt sind, kann eine Bürgerbewegung zur wichtigsten Opposition gegen den städtebaulichen Kannibalismus aufsteigen. Wo immer in Brüssel geplant wird, organisiert Arau die Bürgerbeteiligung. Lange Zeit erfolglos, wie etwa vor 15 Jahren, als die Gemeindeväter noch einmal eine Zeile von zehn Jugendstilhäusern wegreißen ließen. Selbst Schlüsselwerke der Art nouveau wie das Maison du Peuple oder das Hotel Aubecq, beide von dem Jugendstil-Guru Victor Horta gebaut, fanden keine Gnade in den Augen der Herren. Der Bürgermeister von Brüssel-Mitte soll damals einen Appell von 500 Architekten aus aller Welt eigenhändig zerrissen und den Abbruchtermin aus Trotz vorverlegt haben.

Doch inzwischen kann Arau auf eine Reihe von Erfolgen zurückblicken, zum Beispiel auf die Rettung der Place de Martyr. Nur wenige Meter vom touristischen Zentrum Groter Markt entfernt, werden dort zur Zeit gerade ein paar junge Birken gefällt, die durch das verkohlte Dachgebälk an der Ostseite in den Himmel wachsen wollten. Mehr als zweihundert Jahre lang hatte der klassizistisch eingerahmte Platz mit seinen edlen Bürgerhäusern, seinen Säulenaufgängen und Stuckgiebeln sein Gesicht bewahrt. Heute ist dem Martelaarsplein, wie er auf flämisch heißt, nur noch mit Mühe anzusehen, daß er in der Zeit gebaut wurde, als Österreich über Belgien herrschte. Die Fenster vernagelt, die Mauern abgebröckelt und einige Häuser völlig ausgebrannt. Über Jahrzehnte ließ Brüssel sein Schmuckstück verfallen. Vor wenigen Wochen begannen die Sanierungsarbeiten.

Die Leute von der Bürgerinitiative Arau sind stolz darauf, die Gestaltung des Platzes so lange verhindert zu haben. Sie schwärmen von der phantastischen Lage, von der Ruhe, die der Platz inmitten seiner lärmigen Umgebung von Einkaufsstraßen und Zufahrtsstraßen zum Regierungsviertel ausstrahlt. „Ein idealer Ort, um in der Stadt zu wohnen und zu leben.“ Und dort wollte die Gemeindeverwaltung von Alt-Brüssel wieder einmal Büroräume hinbauen.

Arau hat den Streit und die Zweifel im Gemeinderat so lange am Brodeln gehalten, bis die Stadt durch Zufall zum Bewußtsein kam. Das war 1989 und im Grunde ein Nebenprodukt eines ganz anderen Streites. Um den mehr als hundertjährigen Konflikt zwischen den nordbelgischen Flamen und den südbelgischen Wallonen zu entschärfen, beschloß die belgische Regierung, das Land in nahezu selbständige Regionen aufzuteilen. Weil in Brüssel sowohl flämische als auch französischsprachige Bürger leben und weil keiner den anderen die Hauptstadt gönnte, wurde für die Agglomeration der 19 Brüsseler Gemeinden eine eigene Region geschaffen. Plötzlich hatte Brüssel eine einheitliche Verwaltung und eine eigene Regierung.

Seit 1989 gibt es damit eine politische Instanz, die sich darum bemüht, die Stadt wieder bewohnbar und bewohnt zu machen. Im eigenen Interesse, denn die Region finanziert sich überwiegend aus der Einkommensteuer. Bis zum Jahr 2010, so die Vorgabe des Premierministers der Region, Charles Piqu, soll die Einwohnerzahl in der Innenstadt von 35.000 auf 50.000 ansteigen.

Im April dieses Jahres wurde der Bevölkerung der erste Bebauungsplan in der Geschichte Brüssels vorgestellt. In der Innenstadt sollen nur noch Wohnungen gebaut werden dürfen, keine Büroräume mehr. Doch städtisches Leben läßt sich nicht einfach verordnen. Leerstehende Wohnungen gibt es genügend, der Innenstadt fehlt es an lebenswerten Räumen, an einladenden Orten und Grünflächen. Schöne Plätze wie die Place de Martyr, die nach der Renovierung keine Probleme haben wird, neue Bewohner zu finden, sind selten geworden. Viele Häuserreihen standen zu lange leer, haben ihr Verfallsdatum längst überschritten. Der Charme des Morbiden, der Brüssel für manche Besucher so reizvoll macht, reicht nicht aus, um mehr als ein paar Menschen zur Rückkehr in die Innenstadt zu bewegen. Man muß nicht im Zentrum wohnen, um die vielen hervorragenden Restaurants zu genießen, die schönen und die schrillen Kneipen, die angenehme Gelassenheit und die Internationalität, für die Brüssel steht. All das ist auch von den Vorstädten schnell zu erreichen. Brüssel wird noch lange die einzige Großstadt in Europa bleiben, in deren Zentrum man jederzeit eine billige Wohnung finden kann.

Der Exodus der letzten Jahrzehnte hat die Innenstadt gefühllos gemacht. Von den rund 12.000 Entscheidungsträgern, hat Arau ausgerechnet, angefangen bei den hohen Verwaltungsangestellten bis zu den Geschäftsleuten, wohnen nur noch rund 1.000 selbst in der Stadt. Der Chef der Stadtreinigung etwa kennt die Probleme nur vom Hörensagen, seine Frau geht im schicken Vorort zum Einkaufen, sie tritt nie in den Hundedreck auf dem Zentralboulevard. Seit die Regionalverwaltung Zuschüsse für die Außenrenovierungen gibt, haben einige Hausbesitzer immerhin angefangen, die schwarze Schicht von den Fassaden putzen zu lassen. Ein vielversprechender Anfang, denn trotz aller Zerstörungen hat Brüssel immer noch eine Unzahl wunderschöner Häuser aus allen Stilepochen. Oft muß man nur lange genug stehenbleiben, bis sich das Auge an den rußigen Firnis gewöhnt hat. Wie im Fixierbad werden dann langsam die Fassadenornamente sichtbar, die den früheren bürgerlichen Reichtum bezeugen.

Eine Stadt ist wie ein großes Schiff, meint der Stadtsoziologe René Schoonbrodt: Auch wenn das Steuer längst herumgerissen ist, dauert es noch lange, bis sich der Koloß wirklich dreht.

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