: Die Apotheke im Ghetto
Er war der einzige nichtjüdische Bewohner im Krakauer Ghetto: der Apotheker Tadeusz Pankiewicz, Chronist der deutschen Verbrechen ■ Von Bascha Mika
Er steht in der Apotheke, einen Meter vom Fenster entfernt, und er sieht. Sieht einen alten Mann auf Krücken, den SS-Mann hinter ihm, den herabsausenden Gewehrkolben. Sieht das Kind, die Pistole, die auf seinen Hinterkopf zielt. Sieht die Frau, die Militärstiefel, die Tritte, das Blut auf dem Pflaster. Und er hört. Die Schreie, die Schüsse, die Stille.
Zweieinhalb Jahre sieht und hört der Apotheker Tadeusz Pankiewicz den Nazis bei ihren Verbrechen im Krakauer Ghetto zu. Von der Errichtung des Ghettos bis zu seiner Liquidierung. Dann geht er hin und schreibt auf, was er hörte und sah.
„Man hat die älteren Menschen, die Sechzigjährigen, herausgesucht. Ein Befehl wird gebrüllt. Sie sollen laufen, rennen, so schnell sie können. Das wird über ihr Leben oder über den Tod entscheiden. Unter dem Gespött und Gelächter der SS-Männer rennen die armen Menschen erst allein und dann in Gruppen los. Schüsse werden auf sie abgegeben. Wer schnell laufen konnte, schien für dieses Mal gerettet. Die SS- Männer gehen zu ihnen, klopfen ihnen anerkennend au die Schulter und loben sie für den schnellen Lauf, für ihre gute Kondition und Ausdauer. Dann befehlen sie ihnen, sich umzudrehen und schießen ihnen ins Genick.“
Im Krakau der vierziger Jahre betrieb der Pharmazeut Tadeusz Pankiewicz die „Adlerapotheke“, einen altmodischen Laden im Stadtviertel Podgórze mit Hunderten Schubladen aus poliertem Holz und lateinischen Inschriften. Als die deutschen Besatzer in Podgórze das sogenannte „jüdische Wohnviertel“ errichteten, fand sich Pankiewicz unversehens mitten im Ghetto wieder. Als dessen einziger nichtjüdischer Bewohner. Die Nazis waren auf die Apotheke angewiesen; um Krankheiten und Seuchen zu verhindern, die sich über ganz Krakau hätten ausbreiten können, mußten sie die jüdische Bevölkerung wenigstens minimal medizinisch versorgen. Pankiewicz durfte in seiner Apotheke bleiben, sogar in einem Zimmer nebenan wohnen.
In der Adlerapotheke trifft er auf die Opfer und ihre Schinder, er kennt die Spitzel und die Kollaborateure, begegnet den Männern des Judenrats und denen der jüdischen Polizei. Er ist kein Held und kein polnischer Widerstandskämpfer. Auch kein wohlwollendes Schlitzohr wie Oskar Schindler (den er am Ende seines Berichts erwähnt). Aber er tut, was er kann: verteilt Medikamente und Lebensmittel, übermittelt Nachrichten, macht Botengänge, wird zum Bittsteller bei den Nazis, um den Verfolgten zu helfen. Seine Apotheke ist Treffpunkt und ein winziges Stück Normalität zwischen der täglichen, tödlichen Willkür. Und wenn das Morden im Ghetto beginnt, „stehe ich in meinem Zimmer einen Meter vom Fenster entfernt, damit mich die Deutschen, die dicht vor den Fenstern stehen, nicht sehen können“. Vom Fenster sieht er auf den Friedensplatz, den größten Platz im Ghetto.
„Auf die gellenden Schreie und Befehle der Deutschen hin richtet sich die Menge auf, setzt sich, steht wieder auf und drängt sich immer dichter zusammen. Zuerst langsam, dann schneller, am Ende im Laufschritt und unter fortwährendem Stoßen, angetrieben und gedrängt vom unartikulierten Brüllen der Deutschen, verläßt die Menge den Friedensplatz.“
Krakau, mit seiner Nähe zu Auschwitz und Treblinka, spielte in den Ausrottungsplänen der Nazifaschisten eine besondere Rolle. Nach der Vernichtung des Ghettos beginnt Pankiewicz die Gesetze und Regeln zu dokumentieren, nach denen Leben und Sterben im „jüdischen Viertel“ verlief. 1960 wurde sein Tatsachenbericht in Polen veröffentlicht. Ganze 35 Jahre später, im Jahr 50 nach Kriegsende, ist die Chronik nun auf deutsch erschienen. Zwei Jahre zu spät für Tadeusz Pankiewicz. Er war 86, als er 1993 starb.
Mit seinem Buch wolle er, so schrieb Pankiewicz im Vorwort zur polnischen Ausgabe, die „Mechanismen beleuchten, die der Haltung und dem Verhalten zugrunde liegen, welches Menschen in Situationen der Bedrohung, des Schreckens und im Moment ihres Untergangs zeigen“. Das ist dem Apotheker durchaus gelungen. Seine Sprache ist einfach, sein Stil unliterarisch und voller Floskeln, seine Dramaturgie wird von der Chronologie der Ereignisse bestimmt. Trotzdem schafft er es, ein Stück Paradoxie transparent zu machen.
Wie konnte im Ghetto ein fast normal anmutender Alltag entstehen? Ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben, mit Restaurants, Geschäften, selbst einem Tanzcafé. Wieso hat sich die jüdische Bevölkerung so wenig gewehrt? In Krakau gab es keine Revolte, keinen Aufstand wie im Warschauer Ghetto. Warum flohen selbst diejenigen nicht, die es gekonnt hätten, sondern warteten stumm auf den sicheren Tod?
„Es war den Deutschen nicht vergönnt, im Krakauer Ghetto Klagen, Schluchzen und Verzweiflungsschreie zu hören, und das muß sie – so scheint es mir – am meisten verärgert haben. Das Schweigen der Opfer versetzte sie in Raserei.“
Pankiewicz schildert die Perfidie, die Beschwichtigungs- und Lügenstrategien der Nazischlächter, die die Schlinge um das Ghetto immer enger ziehen, bis sie fast jedes der 16.000 Leben vernichtet haben. Er erzählt vom Überlebenswillen der Menschen, die sich mitten im Inferno immer wieder von Hoffnung einfangen lassen. In langen Aufzählungen erinnert er an die Opfer – von denen kaum eine/r überlebt hat, und an die Täter – von denen er einige als Zeuge vor Gericht wiedersah. Seine eigene Rolle beschreibt er zurückhaltend, fast bescheiden. Nur in der Penetranz, mit der er auf die akademischen Titel und den ehemaligen gesellschaftlichen Status seiner Ghetto-Freunde verweist, schimmert Dünkel und auch Eitelkeit durch. Der Herausgeber des Buches, der „Verein zu Förderung des Israel-Museums in Jerusalem“, rechtfertigt das Name-dropping als Zugeständnis an die Authentizität. Doch die Lektüre wird dadurch stellenweise richtig ärgerlich.
Zwei Mark von den knapp vierzig, die das Buch kostet, fließen dem Herausgeber als Spende zu. Diese Entscheidung der Bettendorfschen Verlagsanstalt ist fragwürdig. In der Krakauer Apotheke „Zum Adler“ wurde in den achtziger Jahren ein kleines Museum eingerichtet, das die Geschichte des Ghettos dokumentiert. Diese Einrichtung erhält keine staatlichen Zuschüsse und ist auf ehrenamtliche Arbeit und finanzielle Unterstützung angewiesen. Wenn schon Spenden an ein Museum, dann hätten sie hierher gehört. An den authentischen Ort.
Tadeusz Pankiewicz: „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“. Mit einem Vorwort von Ignatz Bubis und einem Geleitwort von Teddy Kollek. Hrsg.: Verein zur Förderung des Israel-Museums in Jerusalem e.V., Essen, Bettendorfsche Verlagsanstalt. 280 Seiten, 39,80 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen