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Das Leben steckt in der Mülltonne

■ Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt – ein schwieriges Thema wird auf sehr amüsante Art nähergebracht

„Einzig unsere Seele ist der Hort wahrer Eleganz“, sagt der Großvater Vanek mit erhobenem Zeigefinger. „Und es ist ewig schade, daß man sie nicht sehen kann“, antwortet Enkelin Jana, sechzehnjährig. Was man sieht, sind ihre auseinanderfallenden Schuhe unbestimmter Farbe, Großvaters Hemd, das zu lang, aber über dem Busen zu eng ist. Außerdem eine heruntergekommene Kellerwohnung, in der das wichtigste Möbelstück ein ausrangierter Kinderwagen ist. Darin fährt Jana noch vor der Schule die Zeitungen aus. Den Rest des Tages braucht Opa den Wagen, um seine Beute aus den Mülltonnen zu transportieren. Opa sieht sich deshalb stolz als erster Umweltschützer des Landes.

Aber das ist nicht sein einziger Beruf. Neben Metall sammelt er auch Bücher. Mit Vorliebe studiert er philosophische Werke, die leider in unsystematischer Reihenfolge in den Mülltonnen auftauchen. Zuerst trennten sich die Prager von den dekadenten bürgerlichen Strömungen, dann von der Antike und neuerdings vom Philosophischen Wörterbuch der DDR, Ausgabe 1953. Dem entspricht sein Lieblingsgrundsatz: „Nichts vortäuschen, alles vortäuschen.“ Und damit ist er natürlich auch Prags berühmtester Verunsicherungskünstler. Ob es nun im Privaten darum geht, dem Geldbriefträger durch vorgetäuschtes Erhängen oder dem ersten Freund seiner Enkelin als aufgebahrte Leiche zu imponieren oder öffentlich im Handumdrehen einen Volksauflauf mit Denkmalsturm zu provozieren: keine Situation ist ihm zu schade, um sie ins Absurde zu kehren. Selbst die Gerichtsverhandlung beflügelt seine Phantasie. Er versucht den Denkmalfrevel als großartige, sportliche Leistung mit Vorbildcharakter („Höher, schneller, weiter – gemeinsam zum Rekord!“) zu verkaufen. Der Preis ist hoch: lebenslänglich Altersheim und für Jana Internat.

Dabei wollte sie doch noch unbedingt die berühmte Philosophenfrage stellen: „Wer bin ich und woher komme ich?“ Doch Opa stellt sich dumm und geht ins Altersheim. Für einen hungrigen Verunsicherungskünstler eine interessante Aufgabe. Daß das Altersheim die Sache nicht übersteht, ist klar. Aber Jana aus dem Internat zu entführen, das überfordert selbst einen Mann von seinem Format, und so bekommt Freund Jiri doch noch die Chance zur Bewährung und Jana eine späte Antwort.

„Ich weiß, was wir sind. Und damit weiß ich schon sehr viel, weil das nur verdammt wenige von sich behaupten können. Was, bitte schön, sind wir?“ „Wir sind das Salz der Erde.“ Jana starrt Großvater an. Er wird doch nicht auf seine alten Tage sentimental werden? Aber Großvater fügt hinzu: „Wenn uns mal bloß kein dummes Schaf aufleckt.“

Eine Geschichte wie ein Wirbelwind. Das Leben ist hart, aber es ist zu schaffen, und so ein Querdenker wie Großvater macht es nicht einfacher, aber lebenswerter, und das zu schildern ist Sheila Och meisterlich gelungen. Peter Huth

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