piwik no script img

Alle Vögel sind schon schräg

Gebt Märchen ein Chance! Rotkäppchen als Leseabenteuer für Einzelkämpfer  ■ Von Peter Huth

Laßt uns die Märchen zurückgewinnen und daraus ein Abenteuer machen. Abenteuerbuchspiele sind oft mit viel Gemetzel und Würfelei verbunden. Der Leser versucht, sich als Held ausgestattet mit Lebens-, Waffen- und Geschicklichkeitspunkten zum Ziel durchzukämpfen. Auf solchen Firlefanz verzichten wir hier. Das Wichtige ist, das Buch wird nicht mehr von vorn nach hinten durchgelesen, sondern querbeet. Am Ende eines jeden Absatzes besteht eine Entscheidungsmöglichkeit, die zu unterschiedlichen Anschlußabsätzen führt. Jeder entwickelt dadurch seine eigene Geschichte. Viel Spaß!

* * *

Morgen hast du Geburtstag. Oma hat dir ein Päckchen geschickt. Du bist ganz wild darauf, es zu öffnen. Vielleicht ein neues Videospiel, oder eine echte Levi's Jeans. Brav, wie du nun einmal bist, wartest du bis morgen. Weiter Absatz 9.

Du kannst deine Neugier nicht bezähmen und öffnest das Paket. Weiter Absatz 5.

Absatz 1: Ein toller Film. Du bist begeistert. Keine Sekunde hast du es bereut, nicht direkt zu deiner Oma gefahren zu sein. Nun wird es aber Zeit. Weiter Absatz 6.

Absatz 2: Als du später bei deiner Oma ankommst, findest du sie in ihrer Laube nicht mehr vor. Du entdeckst Spuren eines Kampfes und getrocknetes Blut auf dem Fußboden. Von deiner Oma hörst und siehst du nie wieder etwas. Weiter Absatz 17.

Absatz 3: Auf dem Weg zur Schule gibt es wegen der Mütze ein Riesengejohle. Tapfer stehst du den Spott deiner Klassenkameraden durch. Von dem Tag an hast du deinen Spitznamen weg. Selbst deine besten Freunde und deine Eltern nennen dich nur noch Rotkäppchen. Weiter Absatz 14.

Absatz 4: Mit einem Korb voll leckerem Kuchen und einer Flasche gutem Rotwein marschierst du los. An der Bushaltestelle triffst du Herrn Wolf. Freundlich fragt er dich nach deinem Ziel. Du erzählst ihm alles. Er macht dir den Vorschlag, dich mit seinem Auto zur Oma zu bringen. Du lehnst ab. Weiter Absatz 7.

Du findest das prima und steigst in sein Auto ein. Weiter Absatz 8.

Absatz 5: Oma hat dir zum Geburtstag eine Kappe aus rotem Samt geschenkt. Du ärgerst dich tierisch über die blöde Mütze und schmeißt sie in die Mülltonne. Weiter Absatz 13.

Solch eine Kappe hast du dir schon immer gewünscht. Weiter Absatz 10.

Absatz 6: Als du spät am Nachmittag bei Oma ankommst, findest du sie schwer krank in ihrem Bett vor. Du wunderst dich zwar noch über die großen Augen, die großen Hände und das große Maul, aber für dich ist es zu spät. Der Wolf packt zu und frißt dich wie schon vorher die Oma. Und es gibt auch keinen Jäger wie im Märchen, der dich wieder aus dem Bauch des Wolfes befreit. Weiter Absatz 15.

Absatz 7: Zum Abschied schenkt dir Herr Wolf einen Gameboy. Du bist begeistert. Du steckst den Gamboy ein, bedankst dich höflich bei Herrn Wolf, verabschiedest dich und erreichst gerade noch den Bus. Weiter Absatz 16.

An der Bushaltestelle tauchst du sofort ab in Super-Marios Wunderwelt. Weiter Absatz 11.

Absatz 8: Herr Wolf fährt mit dir in den Wald und frißt dich auf. Dazu trinkt er den guten Rotwein, und als Nachtisch verspeist er den Kuchen. Danach legt er sich zu einem Nickerchen nieder. Weiter Absatz 15.

Absatz 9: In der Nacht wird bei euch eingebrochen. Dabei lassen die Diebe das Paket mitgehen. Du wirst nie erfahren, was in dem Paket war. Weiter Absatz 15.

Absatz 10: Jetzt ärgerst du dich über deine Neugier. Da nützt es auch nichts, daß du die Kappe wieder einpackst. Die Überraschung ist futsch. Am nächsten Morgen setzt du die rote Kappe schon zum Frühstück auf und gehst natürlich damit zur Schule. Weiter Absatz 3.

Absatz 11: Du bist so vom Spiel gefesselt, daß du einige Busse vorbeifahren läßt. Weiter Absatz 6.

Absatz 12: Bei Oma angekommen, erzählst du vom freundlichen Herrn Wolf und zeigst ihr den Gameboy. Oma wird stutzig. Leider hat sie in ihrer Laube kein Telefon, und die Nachbarn sind auch nicht zu erreichen. Kurzentschlossen legt sie das Gewehr bereit. Kurze Zeit später, es dämmert schon, klopft es an der Laubentür. „Mach auf, Oma! Ich bin das Rotkäppchen, ich bring' dir Gebackenes“, ertönt die Stimme vor der Tür. Oma ergreift das Gewehr, öffnet die Tür und schießt Herrn Wolf über den Haufen. Hier endet Rotkäppchens Abenteuer.

Absatz 13: Als deine Mutter am nächsten Morgen nach Omas Geschenk fragt, mußt du kleinlaut gestehen, daß du es in den Müll geschmissen hast. Mutter ist stinksauer. Sie zwingt dich, zur Mülltonne zu laufen, die Kappe wieder rauszuholen und damit zur Schule zu gehen. Für dich ist der Geburtstag gelaufen. Du beschließt, die Schule zu schwänzen. Weiter Absatz 15.

Absatz 14: Einige Zeit später erreicht dich ein Brief von Oma. Sie ist krank und hütet das Bett. Sie bittet dich, doch am nächsten Sonntag bei ihr zum Kaffee vorbeizuschauen. Dummerweise hast du dich am Sonntag schon mit deinen Freunden zum Kino verabredet. Du schreibst deiner Oma einen netten Brief und vertröstest sie auf ein anderes Wochenende. Weiter Absatz 2.

Du sagst natürlich den Kinotermin sofort ab und machst dich am Sonntag auf den Weg zu Großmutters Laube. Weiter Absatz 4.

Absatz 15: Damit ist dein Abenteuer zu Ende. Wenn du allerdings wissen willst, wie die Geschichte anders laufen kann, dann solltest du einfach von vorn beginnen.

Absatz 16: Im Bus sitzen deine Klasssenkameraden. Sie freuen sich, dich zu sehen, und überreden dich, doch mit ins Kino zu kommen. Weiter Absatz 1.

Schweren Herzens läßt du deine Freunde am Kino ohne dich aus dem Bus steigen. Deine Großmutter ist dir wichtiger, und der Film läuft ja in der nächsten Woche auch noch. Weiter Absatz 12.

Absatz 17: Vor der Haustür triffst du Herrn Wolf. Du erzählst ihm von deiner grausigen Entdeckung. Herr Wolf zeigt viel Mitgefühl und schlägt dir vor, dich in seinem Auto schnell nach Hause zu fahren. Du willigst ein und steigst in sein Auto. Weiter Absatz 8.

Du willst deine Ruhe haben und fährst so schnell wie möglich mit dem Bus nach Hause. Weiter Absatz 15.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen