: Blick auf die Kulturvielfalt
■ Gegen die Fundamentalisierung von Kultur. Ein Gespräch mit Wolfgang Kaschuba, dem Leiter des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität in Berlin
taz: Was bedeutet Europäische Ethnologie?
Wolfgang Kaschuba: Die eigene Kultur besteht aus vielen Fremdheiten, und die fremden Kulturen weisen ihrerseits viele Vertrautheiten auf. Deshalb kann man mit dieser Konstruktion von „fremd“ und „eigen“ nicht mehr im herkömmlichen Sinn umgehen. Die „europäische Ethnologie“ sehen wir dabei als eine Verbindung, die der Tradition der Volkskunde und Kulturwissenschaft näher steht als der Tradition der Völkerkunde, die aber zugleich das Nachdenken über das andere in Kulturen und über andere Kulturen der Ethnologie ernst nimmt.
Worin liegt der „empirische“ Aspekt Ihrer Arbeit?
Wir wollen Kultur zwar in allgemeineren Überlegungen, Theorien und Perspektiven fassen, aber das Material dafür in konkreten Alltagspraxen suchen, weil man nur dort das sehr komplizierte Zusammenspiel von gesamtgesellschaftlichen Faktoren bis hin zu individuellen Prozessen verfolgen kann. Wenn wir zum Beispiel über ost- und westdeutsche Identität sprechen, fragen wir: Was unterscheidet die Menschen in ihrer Lebenswelt? Welche dieser Unterschiede resultieren nicht nur aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus dem Diskurs, der von den Medien vorgegeben wird? Wenn eine Tagesschau jahrelang getrennte Statistiken über Arbeitslosigkeit in Ost und West bringt, dann wird sich natürlich die Ost-West-Trennung stärker in den Köpfen verankern. Oder wenn wir uns mit dem Thema nationale Identität beschäftigen, dann wollen wir nicht nur wissen, wie diese Modelle historisch zustande kamen, sondern wir wollen erklären, warum es heute so „attraktiv“ ist. Warum entsteht daraus Rassismus, Ethnozentrismus? Was leuchtet den Menschen daran ein, und wofür brauchen sie das in ihrem Alltag?
Was hat die Tätigkeit Ihres Instituts mit dem Leben in Berlin zu tun?
Gerade in Berlin gibt es eine Konzentration von Themen und offenen Fragen in diesem Bereich wie in keiner anderen deutschen Stadt. Unsere Absolventen finden hier Tätigkeitsfelder in Museen, in der Erwachsenenbildung und den Medien, neuerdings auch im Kulturmanagement bei Firmen oder öffentlichen Verwaltungen. Kernstück unseres Studiums sind daher Studienprojekte, in denen die Studierenden über ein bis anderthalb Jahre ein konkretes Thema von Anfang bis Ende gemeinsam bearbeiten. Als Abschluß entsteht eine Ausstellung, ein Buch oder ein Film. Zur Zeit läuft etwa das Projekt „Ein Haus in Europa“. Untersucht wird ein Haus in Berlin-Neukölln als Mikrokosmos der Großstadt, mit allen Problemen der Geschichte und der Gegenwart, die eine Rolle spielen. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit dem Heimatmuseum in Neukölln und mit Museen in Budapest, Amsterdam und eventuell auch Moskau.
Welche internationalen Beziehungen pflegt das Institut?
Es gibt eine Reihe von Kooperationsplänen mit amerikanischen oder osteuropäischen Universitäten. Es ist eine internationale Entwicklung, daß plötzlich ein Begriff wie „Minderheit“ auftaucht. Daher sollten wir versuchen, nicht nur Minderheitenforschung zu betreiben, sondern zunächst die Wertediskurse zu analysieren, die diese Kategorie produziert haben.
An amerikanischen Universitäten heißt das Zauberwort „Cultural Studies“. Haben sich dort fruchtbare Ansätze für das Verständnis von Kultur entwickelt?
Zunächst einmal sind die Cultural Studies ja zu einem gewissen Grad Import aus England. Die Grundidee war dort, Gesellschaft in ihren verschiedenen Gruppierungen an deren jeweils eigenen Maßstäben zu messen, also nicht vom Hochsitz der Wissenschaft und der Elitenkultur her zu argumentieren. In einem zweiten Schritt wurde dann in den USA gefordert, daß diese Untersuchungen von den betroffenen Gruppen selbst mitbetrieben werden sollen. So entstanden die Feminist Studies, Hispanic Studies oder Black Studies. Daß man sich über angeborene oder zugeschriebene Identität in „seine Kultur“ einordnet, ist die Entwicklung, die in den USA prägend geworden ist, und die gewiß sehr viel Positives hat. Kultur erscheint uns damit vielfältiger und gleichwertiger geworden. Folkmusic und Oper etwa, also „populäre“ und „hohe“ Kultur werden heute eher gleichgewichtig wahrgenommen als früher. Die Fremdheit des Blicks, den die alte Soziologie, Ethnologie auf die Gesellschaft richtete, wurde also thematisiert und das Beobachten und Urteilen von einem einzigen Standort aus relativiert.
Das Problematische daran scheint mir, daß diese Entwicklung nur noch auf ihrem internen Wertekanon beharrt und nicht mehr diskursfähig ist. Kultur ist ungeheuer „bedeutungsvoll“ geworden – so wichtig, daß sie gewissermaßen vor den Vereinten Nationen als Grundrecht eingeklagt werden kann. Kultur läßt sich aber nicht juristisch ratifizieren, sondern nur praktisch, sozial „leben“.
In der Anthropologie werden heute neue Konzepte von kultureller Identität vertreten. James Clifford etwa hat die Hybridisierung als Grunderfahrung der Moderne beschrieben. Welche Konsequenzen hat das für den Umgang mit der Kultur von Minderheiten in Deutschland?
Das Problem der Hybridisierung und damit auch der Hypostasierung von kultureller Identität tritt in dem Moment ein, wo ein kulturelles Merkmal zum homogenen Merkmal erklärt wird und wo Gruppen auf dieses eine Merkmal festgeschrieben werden oder sich darauf selbst festschreiben. Durch diese Strategie haben Mehrheiten wie die Deutschen die nicht deutschsprachigen oder deutschstämmigen Minderheiten sozial abgedrängt. Nun haben die Minderheiten diese wirksame Strategie übernommen. Wenn man heute sagt, ich bin Sorbe oder ich bin Türke, dann hat man zumindest eine starke „moralische“ Argumentationsposition. Aber man wird im Grunde dazu gezwungen, dieses eine Identitätsmerkmal immer wieder überzubetonen.
Gleichzeitig wissen wir durch James Clifford und andere, daß unsere kulturellen Praktiken und Identitäten heute ungeheuer vielfältig sind. Die Berufung auf das eine Merkmal muß möglich sein, aber ebenso dessen Relativierung. Sonst kommt es zur „Kulturalisierung“, also zu einer Art Fundamentalisierung von Kultur. Und das betreiben die Gegner des Paragraphen 218 genauso wie manche fundamentalistisch islamischen Gemeinden.
Schafft die Überbetonung des ethnischen Merkmals eine „Ghettokultur“?
Nehmen wir beispielsweise „Ausländerfeinde“ und „Ausländerfreunde“. Ist das nicht auf beiden Seiten ein Bedienen des rassistischen Diskurses, natürlich mit völlig entgegengesetzten Absichten und Zielen? Für uns ist dabei das Tragische, daß im Grunde mit einer ethnologischen Figur „taktisch“ gearbeitet wird. Der Ausgangspunkt ist, daß nach Authentizität und Einzigartigkeit der Kulturen verlangt wird. Aber das Argument wird auf den Kopf gestellt, wenn die „Ausländerfeinde“ sagen: Einzigartigkeit ja, aber bitte in der Türkei. So war natürlich das ethnologische Argument des Respekts vor „Kultur“ nicht gemeint. Kultur sollte gerade den Blick für die Vielfalt öffnen. Umgekehrt hypostasieren die „Ausländerfreunde“ auch gerne die Unantastbarkeit fremder Kulturen und ignorieren dabei, daß in islamischen Gemeinden manchmal ganz Ähnliches stattfindet wie etwa in bayrischen oder in katholischen Gemeinden: Abgrenzung nach außen. Die andere Seite ist, wie die Medien und wir selbst mit dem „ethnischen Paradigma“ umgehen. Ich habe kürzlich eine Kurzanalyse der Presse qua Augenschein gemacht und immer wieder typische Schlagzeilen gefunden. Etwa so: „Siebzehnjähriger Türke ersticht achtzehnjährigen Berliner.“ Dieses Muster ist immer noch durchgängig, obwohl der Türke im Regelfall in Berlin geboren ist und der Berliner vielleicht aus Bottrop kommt.
Interview: Deniz Göktürk
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