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Nachschlag

■ Samische Tradition: Mari Boine in der Passionskirche

Der Zeitpunkt war gut gewählt: Zwischen dem christlichen Osterfest vor einer Woche und dem orthodoxen heute wurde in der Passionskirche die Passion der Mari Boine „gegeben“. Die samische Künstlerin singt sich die Welt ihres Volkes zurück, das verstreut in Norwegen, Schweden, Finnland und Rußland lebt. Christianisierung und Industrialisierung haben Kultur, Religion und Sprache der skandinavischen Urbevölkerung nahezu zerstört. Man kann den Eindruck haben, daß Mari Boine eigentlich Maria Magdalena ist, erzählen ihre Lieder doch eine Leidensgeschichte. Die Musik ist eine der langen Wege und der langen Nächte. Jeder Ton hat am Ende immer eine unerwartete Dehnung, als wäre es eine Qual zu verstummen. Tatsächlich ist das rhythmisierte, textlose Singen – Joiken – auch eine spezielle Form der Kommunikation. Früher war es eine schamanistische Technik, um mit der nicht sichtbaren Welt in Verbindung zu treten, was im 17. Jahrhundert offiziell verboten wurde. Noch heute gilt es vielen der ungefähr 70.000 Samen als ein „sündhaftes Lebensmittel“. Die Dynamik des Gesanges von Mari Boine spiegelt ein anderes Verhältnis zu Zeit und Zeitlosigkeit, Licht und Dunkelheit. Nicht die Schnellebigkeit der Metropole mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Hektik und Ruhe, sondern langes Warten, langes Schweigen, trotziges Treiben.

Für Mari Boine ist es ein politischer Akt, der Tradition ihres Volkes zu einer Renaissance zu verhelfen. Zerstörung einer Kultur ist auch Zerstörung der Natur. Sie findet es nicht so wichtig, die Folgen von Tschernobyl oder das Ozonloch – die den Lebensraum der Samen besonders betreffen – zu thematisieren, sondern zu zeigen, was wirklich verlorengeht: eine jahrhundertealte Symbiose mit der Natur. Noch deutlicher wird sie, wenn sie die christliche Missionierung als kulturzerstörenden Faktor anklagt. Aber hier wird letztlich ein Widerspruch sichtbar, denn ihre Lieder wurden eigentlich in der Natur gesungen. In der Kirche dagegen bleibt ihre Stimme gefangen und wird gleichzeitig überhöht – weil die Poesie fremder Erfahrungen unweigerlich „heilig“ wird, wenn man sie in eine Kirche verfrachtet. Waltraud Schwab

Mari Boine Foto: Veranstalter

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