piwik no script img

■ NormalzeitSpätgermanische Opferkulte

Früher war alles besser – jedenfalls die dualen Systeme: Kapital und Arbeit, Erste und Dritte Welt, Es und Ich und so weiter. Die Entfaltung solcher Begriffspaare öffnete Welten. National – international. Fast beflügelten einen derlei analytische Weitsichten zu weltbürgerlicher Übersicht. Nicht zufällig waren die schärfsten Denker dieser Systeme Juden. Auch der Mann- Frau-Dualismus ließ einen die Welt anders sehen. Doch da setzte dann irgendwann auch schon die Verblödung an: zum Täter-Opfer-Dualismus, der anfänglich durchaus hier und da noch sinnvoll schien. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Wiederaufkommen der dumpfen Totalitarismus-Theorien wurde dann jedoch der ganzen Welt mit der Unterscheidung von Tätern und Opfern zu Leibe gerückt. Diese albern-amerikanisierten Journalisten kennen nur noch Täter und Opfer. Höhepunkt war neulich eine Schreinemakers-Show, in der jemand auftrat, bei dem sie das Wort „Nebenkosten-Opfer“ einblendeten. Und der sprach auch genauso, als hätte er es gerade noch aus Sarajevo weg ins Sat.1-Studio geschafft. Die Welt wimmelt plötzlich von Opfern und Tätern. In den USA ist dieser analytische Dünnschiß bereits flächendeckend: Marcia Pally spricht von „Victim Chic“. Jeder Arsch kommt als Opfer in die Medien. Unlängst, so sagte sie, habe sie eine Frau getroffen, die jedesmal unter ihren Namen den Hinweis setzte: „Victim of a nuclear family“. Und gerade vermeldeten die Medien hierzulande: Die rüden US-Talk-Shows hätten ein erstes Opfer hervorgebracht. Irgendwie sind wir ja alle Opfer, das verbindet uns mit hungernden Indern ebenso wie mit verstrahlten Weißrussen und porschefahrenden Münchnern, denen jemand die Antenne abgeknickt hat. Gerade werden in Westberlin, nachdem man sie 15 Jahre lang kulturell gehätschelt hat, die Sprayer zu fürchterlichen Tätern hochgejubelt. Nicht mehr lange, und es wird auch die ersten Spray-Opfer geben, und die werden sich so ähnlich vermehren wie geschändete Kinder, mit einer ins Gigantische hochgerechneten „Dunkelziffer“ hintendran. Dunkelziffer ist sowieso immer gut: Kein Opfer ohne Dunkelziffer! Und, ganz wichtig: viel Verständnis. Opfer brauchen Zuneigung, Aufmerksamkeit, Verständnis, und am besten sofort qualifizierte Betreuung! Auch der Dagobert- Prozeß in Moabit litt unter diesem Seicht-Dualismus: Einer der intelligentesten Täter der Nachkriegszeit mußte als Opfer verteidigt werden. Nun haben Opfer aber keinen Witz und schon gar keine Ironie. Arno Funke hat aber beides. Also mußte er sich selbst klein und fertig machen, um von der verminderten Schuldfähigkeit zu profitieren. Ein ganz und gar unbefriedigender Prozeß, der nur durch das echte Interesse des Richters an dem Hobbybastler Funke lebte, nichtsdestotrotz jedoch bloß mit einem Kompromiß zwischen dem Täter und dem Opfer Dagobert enden mußte. Im wiedervereinigten Deutschland, mit seinen 16 Millionen Opfern und 700 Kilometern Opferakten eines Unrechtsregimes gibt es statt Victim-Chic bis jetzt nur Opfer-Quatsch: von der Psychiatrisierung des sächsischen Justizministers bis zur Schlagfertigkeit der Wernigeroder CDU-Vorsitzenden. Auf die Frage: „Wieso sind Sie ein Regimeopfer? Sie haben doch eine hohe staatliche Auszeichnung bekommen?“ sagte sie: „Ja, aber völlig zu Unrecht!“

Nein, es war nicht alles gut! – Damit wollen wir die dusselige DDR-Opferdebatte beenden. Helmut Höge

wird fortgesetzt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen