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Billige Plätze

Kriemhilds Rache an der Abendkasse: Studi-Ermäßigung in Berliner Theatern

Es ist noch ganz still im Deutschen Theater. Kartenabreißer und Garderobenfrauen harren gelangweilt des Ansturms. An der Kasse aber formiert sich ein verschworenes Häuflein allmählich zu einer Schlange. Kaum öffnet sich der Schalter, beginnen die Rangeleien um die beste Postitionierung. Es gibt noch ein paar Karten für den zweiten Rang, Seite hinten, das Stück zu zehn Mark. Als sie verkauft sind, beginnt sich die Schlange zu zerstreuen. Denen, die leer ausgegangen sind, bleiben statt „Kriemhilds Rache“ nur noch Kino oder Kneipe als Alternativen für den angebrochenen Abend.

Solche Szenen waren früher in jeder Berliner Bühne allabendlich zu beobachten. Studentenkarten mit 50 Prozent Ermäßigung gab es nur an der Abendkasse. So wurden die Plätze aufgefüllt, die andernfalls leergeblieben wären. Von den Feuilletons gefeierte Inszenierungen für wenig Geld zu sehen, war damit fast aussichtslos.

Doch seit die Berliner Theater ihre Existenzberechtigung mit Auslastungsquoten nachweisen müssen, kommt Bewegung in die Preisstrukturen. Vorreiter war Frank Castorfs Volksbühne. Kosten dort schon die regulären Karten nur 15 oder 21 Mark, müssen Studis nur acht Mark hinblättern – und das nicht erst an der Abendkasse, sondern ohne jede Einschränkung bereits im Vorverkauf. Die anderen Bühnen zeterten zunächst über unlauteren Wettbewerb und Dumpingpreise.

Doch das Berliner Ensemble zog bald nach. Die Tarife sind dort indes so unübersichtlich wie die Leitungsstrukturen. Statt des Einheitspreises von 40 Mark zahlen Studierende dort 22,50 Mark. Das Haus mit der vielköpfigen Intendantenriege hat sich aber noch einen besonderen Clou ausgedacht, um das Publikum an sich zu binden. Der „BE-Paß“ kostet 15 Mark und verbilligt den Eintritt nochmals – in Kombination mit dem Uni-Ausweis auf nur noch zehn Mark.

Aus der Einheitsfront der Musentempel, die die Studis an der Abendkasse abspeisen, sind inzwischen auch die drei Opernhäuser

ausgeschert. Bei der Komischen Oper gehen die Billetts zum halben Preis bereits drei Tage vor der Vorstellung über den Schalter. Wer Jochen Kowalski hören oder die allerneueste Kupfer-Produktion sehen will, schaut aber auch bei diesem System bisweilen in die Röhre. Staatsoper und Deutsche Oper dagegen verkaufen Studi- Tickets schon am ersten Vorverkaufstag – aber nur nur in begrenzter Zahl. Ist das Kontingent ausgeschöpft, verweist die Staatsoper den Musikliebhaber weiterhin an die Abendkasse. Das prestigeträchtige Haus Unter den Linden ist für Opernbesucher mit schmalem Geldbeutel ohnehin ein Problemfall. Zwar kosten die billigsten Plätze je nach Aufführung nur acht oder zehn Mark, doch bringt es die höfische Theaterarchitektur mit sich, daß die Bühne dort dem Blick entzogen ist. Karten mit Sicht dagegen kosten mindestens 30 oder 40 Mark. Ganz andere Dimensionen erreichen die Preise bei Premieren oder Gala-Veranstaltungen, die sich unter Barenboims Ägide bedenklich häufen. Einfacher liegt die Sache bei der Deutschen Oper, die schon durch ihre Architektur demokratischen Kunstgenuß signalisiert. Am Tag der Vorstellung werden alle noch verfügbaren Karten zwar nicht ganz um die Hälfte, aber immerhin um „durchschnittlich 49 Prozent“ ermäßigt. Und zwar für alle – ein Ausweis sozialer Benachteiligung ist nicht vonnöten.

Wer nicht gern allein ins Theater geht, den stellt der rechtzeitige Kartenkauf freilich vor logistische Probleme. Vor dem Gang zur Vorverkaufskasse müssen die Ausweise aller Beteiligten eingesammelt werden, sonst gibt's keinen Nachlaß. Wer mit den Karten dann tatsächlich ins Theater geht, wird sinnigerweise nicht kontrolliert.

Die Karten erst an der Abendkasse zu erstehen, hat aber noch einen weiteren Vorteil. Sind dort noch Tickets zu haben, ist abzusehen, daß die Vorstellung nicht ausverkauft sein wird. Damit eröffnet sich eine zusätzliche Spar-Variante. Es genügt dann, die billigsten Plätze ohne Sicht zu erstehen. Bei dieser verbreiteten Methode bleibt die verschworene Menge vom obersten Rang bis Vorstellungsbeginn unschlüssig an den Eingängen stehen. Wenn das Licht verlöscht, stürzt sich die Meute auf die freigebliebenen Plätze in der Mitte. Wer sich schon im Hellen setzt, ergattert zwar die besten Plätze, geht aber ein erhöhtes Risiko ein, von den rechtmäßigen Platzinhabern vertrieben zu werden. Das Verfahren hat zwar den Nachteil, daß sich das Gerangel von der Kasse eine Stunde später auf der Galerie wiederholt. Aber nur so gibt's große Kultur zum kleinen Preis – nicht teurer als eine Kinokarte. Ralph Bollmann

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