: Drei Männer in einem Boot
Nach dem langweiligsten Präsidentschaftswahlkampf aller Zeiten muß Frankreich morgen einen neuen Staatschef wählen / Favorit Zickzack-Chirac übt sich in Berechenbarkeit ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Die „ekelhafteste Kampagne“ Frankreichs ist seit Mitternacht zu Ende. Der O-Ton stammt von Innenminister Charles Pasqua, der in seinem Unterstützereifer für den Premierminister und Präsidentschaftskandidaten Edouard Balladur dazu selbst eine Menge beigetragen hat: Er schaffte es, mitten im Wahlkampf angebliche CIA- Agenten zu enttarnen und einen Angriff auf die Unabhängigkeit der französischen Justiz zu starten, doch der erhoffte geniale Coup im letzten Moment – das Aufmischen einer korsischen Terroristengruppe etwa oder einer islamistischen Geheimorganisation – gelang ihm nicht. Pasquas Fehlschläge und Balladurs kurzer und profilloser Wahlkampf haben den anfänglich aussichtsreichsten Kandidaten vermutlich den Sieg gekostet. In den Umfragen der letzten Tage, die angesichts des Veröffentlichungsverbotes im Endspurt nur unterderhand weitergegeben werden, steht Balladur an zweiter oder dritter Stelle – gleichauf mit dem Sozialisten Lionel Jospin.
Der voraussichtlich nächste Präsident der Franzosen heißt Jacques Chirac. Der Pariser Bürgermeister seit 1977 und Präsidentschaftskandidat seit 1981 hat seine dritte Kampagne für das höchste Amt im Staat mit Bravour absolviert. Vom Wahlkampfauftritt über den Fernsehspot bis hin zu seinem Logo – einem Apfelbäumchen, wie sie zuhauf in Chiracs Heimatregion, der südwestfranzösischen Corrèze, wachsen – war sie professionell wie keine andere.
Seit er als künftiger Präsident gehandelt wird, bemüht sich der 62jährige Konservative, dessen Wankelmut und Unberechenbarkeit Legende sind, um einen staatsmännischen Duktus. Er weigert sich, auf die Provokationen seines Gegners und Ex-Freundes aus der eigenen Partei, Balladur, einzugehen und hält sich mit Siegesgewißheit zurück. Die Satiriker haben diesen neuen Chirac sofort aufs Korn genommen: In der allabendlichen Bebete-Show qualmt Chirac regelmäßig aus Nasen, Mund und Ohren, so sehr muß er sich zusammenreißen, um seine ungläubige Siegesfreude zurückzuhalten.
Chirac bewegt sich seit Jahren an der Spitze Frankreichs. Zweimal war er Premierminister – 1974 unter dem konservativen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing und 1986 in Kohabitation mit dem Sozialisten François Mitterrand. 1976 gründete er seine eigene Partei, die neogaullistische RPR, deren wichtige Funktion es seither ist, ihren Gründer und langjährigen Chef in den Elysee-Palast zu hieven. Erst im November vergangenen Jahres gab Chirac sein Parteiamt ab, als er seine Präsidentschaftskandidatur verkündete.
Wer Chirac wählt, tut das im Wissen um seinen politischen und persönlichen Zickzackkurs. Er war gegen die Erweiterung der EG um Spanien und Portugal, stimmte dann aber für die Maastrichter Verträge. Er begann seine jetzige Präsidentschaftskampagne mit der Forderung nach einem neuen Referendum, aber nachdem das zum Absinken des Franc auf den internationalen Finanzmärkten führte und die europäischen Partner ihre Vorliebe für Balladur signalisierten, ließ Chirac die Idee wieder fallen. Und seit vor wenigen Wochen zusätzlich die Anhänger des Pro- Europäers und einstigen konservativen Chirac-Rivalen Giscard d'Estaing auf den Zug des Favoriten sprangen, gerät dessen Außenpolitik geradezu euro-phorisch.
Bei seiner letzten Präsidentschaftskandidatur 1988, als er Premierminister war, brillierte Chirac durch konservative Politik: Er ordnete ein Massaker an Nationalisten in der französischen Pazifikkolonie Neukaledonien an und äußerte Verständnis für Franzosen, die aufgrund des „Geruchs“ nicht neben Einwanderern leben wollten. Prompt verlor er die Wahl.
Chirac und das Mäntelchen im Wind
Diesmal legte sich Chirac ein linkes Profil zu – nachdem er erkannt hatte, daß er sich anders nicht von Balladur absetzen könne. So postulierte Chirac, unter dessen Stadtregierung Paris immer teurer und elitärer wurde, plötzlich Beschlagnahmungen von Wohnraum, um der Obdachlosigkeit beizukommen.
Der Populismus trug Früchte – selbst bei Intellektuellen. Bei zwei großen Veranstaltungen scharte Chirac in den letzten Wochen zahlreiche Künstler und Wissenschaftler um sich, darunter nicht wenige „Kaviar-Linke“, die in den 80er Jahren zu der schicken Gefolgschaft von Mitterrand gehörten. Sogar der einstige Guerrillero und Mitterrand-Berater Regis Debray begab sich in die Gesellschaft von Chirac.
Persönlich ist Chirac ein jovialer Typ, der das Bad in der Menge genießt, gern am Tresen steht und den selbst seine Freunde davor warnen, sich für jeden Gefallen, den ihm mal jemand getan hat, zu revanchieren. Dies führt dazu, daß nun häufig vor dem drohenden „RPR-Staat“ gewarnt wird – ein Klüngelsystem, in dem Chirac angeblich sein gesamtes Umfeld unterbringen würde.
Im Schatten von Chirac hat in den letzten Tagen der sozialistische Kandidat Jospin eine Menge Unterstützung von solchen Linken erfahren, die zu einer „nützlichen Stimmabgabe“ auffordern. Drohend malen sie eine Konfrontation von zwei konservativen Politikern im zweiten Wahlgang in zwei Wochen aus. Demgegenüber bestehen die kleineren linken Kandidaten – der Kommunist Robert Hue, die Troztkistin Arlette Laguiller und die Grüne Dominique Voynet – auf einer Abrechnung mit den 14 Jahren Mitterrand. Die Grüne und der Kommunist lassen allerdings durchblicken, daß sie im zweiten Durchgang zur Wahl Jospins aufrufen würden. Nur Laguiller, die strengste von allen, will damit nichts zu tun haben: Für sie sind Balladur, Chirac, Jospin „eine Suppe“.
Wenn die Meinungsumfragen stimmen, wird es morgen abend einen Sieger Chirac geben und ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Balladur und Jospin. Beide liegen bei rund 20 Prozent, und es sieht ganz danach aus, als ob bei Frankreichs wichtigster Entscheidung für den Rest dieses Jahrhunderts ein paar zehntausend Stimmen entscheiden werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen