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"Wie kann ein Amerikaner so was tun"

■ Ausgerechnet in Oklahoma City, wo so etwas wie ein Bombenanschlag undenkbar schien, funktionieren die Rettungsarbeiten reibungslos. Aber das Wort "vermißt" wird mit jedem neuen Tag zum Euphemismus

„Wie kann ein Amerikaner so was tun“

Wer immer die Kirche an der Walker Street gebaut hat, muß diesen Belagerungszustand vorhergesehen haben. Die „First Christian Church“ ähnelt mit ihrem eiförmigen Rundbau aus weißem Beton eher einer Festung als einem Gotteshaus. Seit Donnerstag haben hier Soldaten der „Oklahoma National Guard“ und Polizisten Stellung bezogen, um diejenigen gegen Fernsehkameras und Mikrofone abzuschotten, die drinnen Schutz gesucht haben: Angehörige von rund 150 Menschen, die seit der Explosion einer Autobombe in der Innenstadt von Oklahoma City am Mittwoch morgen vermißt werden.

In der „First Christian Church“ kommen sie seit fünf Tagen täglich zusammen. Hier stehen ihnen Psychologen, Ärzte und Priester aller Glaubensrichtungen einschließlich einer indianischen Heilerin zur Seite. Hier haben sie alle verfügbaren Unterlagen – Fotos, Röntgenbilder, zahnärztliche Befunde – abgegeben, die dem städtischen Gerichtsmediziner helfen könnten, die Leichen zu identifizieren.

Noch klammern sich viele an die Hoffnung auf ein Wunder. Doch mit jedem neuen Tag wird das Wort „vermißt“ zunehmend zum Euphemismus. Jeden Tag werden wieder drei, vier, fünf, manchmal sechs Familien in der „First Christian Church“ vom Gerichtsmediziner und einem Psychologen des Roten Kreuzes in einen Nebenraum gebeten. Jeder in der Kirche weiß, was das bedeutet: Man hat die Leiche des Sohnes, der Schwester, des Enkelkindes oder Cousins aus den Trümmern gezogen.

Keith Coverdale ist einer der wenigen, die sich nicht in die Kirche flüchten. Er will reden. Er muß reden. Jedes Gespräch mit Reportern nimmt er wahr, als ließe sich damit ein Schutzmantel gegen die bevorstehende Nachricht überziehen. Keith Coverdale saß am späten Vormittag des 19. April in einem Fast-Food-Restaurant in Atlanta, im Bundesstaat Georgia, als jemand mit der Nachricht von einer Bombenexplosion in Oklahoma City hereinplatzte. Es dauerte ein, zwei Stunden, bis sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Eine Autobombe hatte das „Alfred P. Murrah Building“ zerfetzt. Mit am schlimmsten betroffen war die Kindertagesstätte im zweiten Stock. Dort hatte seine Mutter Janice wie jeden Morgen seine beiden Söhne, den fünfjährigen Elijah und den zweijährigen Aaron, abgeliefert.

Keith Coverdale setzte sich in den nächsten Greyhoundbus nach Oklahoma City — Geld für ein Flugticket hatte er nicht. Seitdem tigert er vor der „First Christian Church“ auf und ab, sucht nach Journalisten oder irgend jemandem, dem er die Fotos seiner Söhne zeigen kann: Elijah als Kung-Fu-Kämpfer, Aaron beim Toben im Spielzimmer, Elijah und Aaron am letzten Thanksgiving Day.

Keith Coverdale wirkt nicht verzweifelt, nicht wütend. Seine Stimme klingt ruhig, fast versonnen, so als ob noch nicht durchgedrungen ist, daß seine Kinder nach menschlichem Ermessen die Explosion und fünf Tage unter den Trümmern nicht überlebt haben können. „Ich weiß ja, daß fast keine Aussicht mehr besteht“, sagt er. „Aber ich kann doch die Hoffnung nicht aufgeben.“ Seine Mutter ist unterdessen wieder in der Kirche verschwunden. Beten, beten, beten für ein Wunder. Wenn sie jetzt noch ihren Glauben aufgeben würde, sagt sie, „dann habe ich überhaupt nichts mehr“.

In den nächsten 24 Stunden, so glauben die Feuerwehrleute, werde man sich endlich in den total eingedrückten zweiten Stock vorarbeiten können, in dem der Kindergarten untergebracht war. Die Helfer stoßen immer häufiger auf verkohltes, verbogenes Spielzeug — eine makabre Vorankündigung dessen, was sie erwartet. Außer Elijah und Aaron werden noch 13 weitere Kinder vermißt.

Kurz vor Mitternacht an diesem Samstag steigt die Zahl der Leichen, die aus dem Bürogebäude und umliegenden Häusern geborgen worden sind, auf 78. Den ganzen Tag über waren die Bergungsarbeiten durch Hagelstürme und Regengüsse behindert worden. Die Rettungsmannschaften und Bauarbeiter sind trotz Schutzanzügen nach wenigen Stunden durchfroren und durchnäßt. Über Radio und Fernsehen wird die Bevölkerung aufgerufen, Arbeitshandschuhe, Socken, Batterien, Regenschuhe, Ölanzüge und warme Unterwäsche zu spenden. Innerhalb kürzester Zeit haben sich in den Sport- und Jagdgeschäften, in den Army-Surplus-Läden und Supermärkten Menschenschlangen gebildet, die kistenweise Wollsocken, wasserdichte Handschuhe, Handtücher, Jacken, Sweatshirts davontragen.

An Sammelpunkten vor Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen stehen wiederum unzählige Freiwillige im strömenden Regen; sie sortieren und transportieren die Spenden in die Innenstadt, die manche inzwischen in „Beirut“ umgetauft haben. Oklahoma City, das selbsternannte „Herz“ Amerikas, wo Kühe neben Ölbohrtürmen grasen und sich jedes Jahr die „Cowboy-Poeten“ des Landes in der „Cowboy Hall of Fame“ zum Rezitieren treffen — dieses Oklahoma City hat sich seit Mittwoch in ein gigantisches Hilfe- und Selbsthilfezentrum verwandelt. Schon wenige Stunden nach der Explosion hatten sich in den städtischen Krankenhäusern mehr Ärzte eingefunden als gebraucht wurden. Burger-King-Filialen dienen inzwischen als Verteiler für Kleiderspenden, beim Rodeo wird Geld für einen Katastrophenhilfsfonds gesammelt, die Oklahoma Bank, die Freimaurergemeinde der Stadt, Versicherungsfirmen und Radiostationen haben Spendenkonten eingerichtet.

Hotelketten schaffen eine Unterkunft für diejenigen, die obdachlos geworden sind, darunter Janice Coverdale, deren Apartmenthaus, zwei Blocks vom „Alfred P. Murrah Building“ entfernt, zerstört wurde. Beerdigungsunternehmen haben angeboten, die Bestattung der getöteten Kinder umsonst zu übernehmen. Freiwillige melden sich, um Nachtschichten bei psychologischen Beratungsstellen zu schieben. Psychologen und Physiotherapeuten versorgen wechselweise die Angehörigen der Rettungstrupps, von denen manche kurz vor dem physischen wie psychischen Kollaps stehen.

Ausgerechnet in dieser Stadt, in der so etwas wie ein Bombenanschlag undenkbar schien, funktionieren die Rettungsarbeiten und Hilfsaktionen wie am Schnürchen. Inmitten der Apokalypse fördert das nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern auch den Lokalpatriotismus in einem Bundesstaat, dessen BewohnerInnen im Rest des Landes verächtlich als „Okies“ bezeichnet werden. „Wir haben Amerika und der ganzen Welt gezeigt, daß wir auch in schlimmsten Zeiten über uns hinauswachsen.“ Diesen Satz hört man in Oklahoma City in diesen Tagen immer wieder.

Die lokalen Medien haben unterdessen die Rolle des Nachschubkoordinators für Hilfsgüter und des kollektiven Psychologen übernommen. ModeratorInnen geben Ratschläge zum Umgang mit Traumata, Depressionen, Trauer und Angst. „Leute, sucht Hilfe, wenn Ihr sie braucht“, tönt es aus dem Äther. Dies sei nicht die Zeit, mit „Oklahoma-Cowboy-Individualismus“ alles in sich hineinzufressen. Und so wird vor der Kamera und dem Mikrofon geweint, geredet, gebetet und gewütet — gegen Timothy McVeigh, jenen 26jährigen mit dem militärisch kurzen Haarschnitt und dem scheinbar ungerührten Gesichtsausdruck, der seit Freitag angeklagt ist, den Kleinlaster mit über 1.000 Pfund Sprengstoff vor dem „Alfred P. Murrah Building“ abgestellt zu haben. „Wie kann ein Amerikaner so etwas tun?“ fragt fassungslos eine Anruferin in einer Radio-Talkshow. „Es wäre“, sagt sie hörbar unter Tränen, „soviel leichter, wenn das jemand von auswärts getan hätte.“

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