Berliner Tagebuch
: Viele Selbstmorde

■ Berlin vor der Befreiung: 29. April 1945

Foto: J. Chaldej / Voller Ernst

Wenn wir vorigen Sonntag gewußt hätten, was uns erwartet! Es war die aufregendste Woche meines Lebens. Vorigen Sonntag hatten wir noch tüchtigen Bombenschaden in der Wohnung. Die deutschen Fliegen haben in Friedrichshagen viele Häuser zerstört. Ich glaubte wiedermal, mein letztes Stündlein sei gekommen, als der Kalk von der Decke auf mich prasselte. Wir haben allen Dreck liegen gelassen und sind dann rüber zu R. gegangen zum Schlafen. Als es dunkel war, kamen plötzlich Russen an, ein ganzer Trupp, die wollten Quartier haben und fingen dann in der Wohnung ein Gelage an, während wir zitternd im Keller saßen.

An diesem ersten Tag sollen in Friedrichshagen an die hundert Selbstmorde vorgekommen sein. Herr Pastor hat sich, seine Frau und Tochter auch erschossen, weil die Russen in den Keller eingebrochen und sich an das Mädchen gemacht haben. Frau H. hat ihre beiden Söhne erschossen und sich und der Tochter die Schlagader aufgeschnitten, die beiden letzteren sind aber gerettet worden. Unsere Lehrerin, Frl. K. hat sich aufgehängt, die war Nazi. Der Ortsgruppenleiter S. hat sich erschossen und Frau N. vergiftet. Ein Segen, daß es kein Gas gibt, sonst hätte sich noch mancher das Leben genommen; wir wären vielleicht auch tot. Ich war ja so verzweifelt! Ich sah keinen Ausweg mehr, mir war schon klar, daß auch mich so ein Russe noch vornehmen würde. Wir hätten dann später den Keimling entfernen lassen; denn ein Russenkind möchte ich nicht zur Welt bringen!

Vorigen Freitag war auf dem Marktplatz abends 7 Uhr eine Ansprache unseres neuen Bürgermeisters Schwarz, eines früheren Kommunisten, der die Hitlerzeit über in Moskau war. Das erste, was er sagte war, daß wir nun Kommunisten sind. Das geht so von einem Tag zum anderen. Erst sind alle Nazis und auf einmal Kommunisten. Aus der braunen Haut in die rote. Es ist doll. In der K.P.D. ist großer Andrang, alle wollen sich einschreiben lassen. Das ist aber schwer, wenn man vorher nicht drin war. Beim Anstehen ist es interessant, die Gespräche der einfachen Leute zu hören. Da wird aber auf Hitler geschimpft. Einige schimpfen auch schon auf den Bolschewismus. Ich werde mich fernhalten von dem ganzen Parteizauber. Höchstens Sozialdemokrat wie meine Eltern. Lieselotte G.

Zitiert nach I. Hammer/ S. zur Nieden (Hrsg.): „Sehr selten habe ich geweint“, Schweizer Verlagshaus, Zürich 1992

Lieselotte G. (1928), stammte aus Friedrichshagen, wo sie auch das Ende des Krieges erlebte. Recherche: Jürgen Karwelat