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Die Samen und die Wasserkraft

In Lappland leistete das Volk der Samen vergeblich Widerstand gegen die Staudammpolitik der schwedischen Regierung. Heute versuchen sie am Tourismus mitzuverdienen  ■ Von Klemens Ludwig

Der erste Berührungspunkt mit der samischen Kultur ist ein Zelt. Das große Fellgebilde ist Mittel- und Angelpunkt im Leben der Samenfamilie. Hier wird geschlafen, gearbeitet und gegessen. Ein Feuer in der Mitte sorgt für Wärme und Behaglichkeit und schützt im Sommer vor den Mücken. In den endlosen Winternächten bietet das Zelt Schutz vor Schnee, Eis und Sturm. Zugegeben, es sind nur noch wenige Samen, die als Nomaden in Zelten leben, doch die alte Tradition ist nicht ganz verloren.

Niemand stört mich, während ich vor dem Zelt stehe und versuche, mich in die samische Kultur hineinzuspüren. Irgendwann jedoch drängt es mich weiter; es gibt noch mehr zu sehen als diese naturgetreu aufgebaute Wohnstatt im Ajtte-Museum von Jokkmokk am Polarkreis. Das Ajtte (auf deutsch Vorratsspeicher)-Museum schafft es tatsächlich, seinen Besucherinnen und Besuchern die samische Kultur aus Sicht der Samen selbst nahezubringen. Dabei fehlt es nicht an kritischen Tönen gegenüber der Kolonisierung des Nordens und der Zurückdrängung der Ureinwohner. Nur wenige Meter entfernt befindet sich die samische Volkshochschule. Hier lernen schwedische und samische Jugendliche, was im staatlichen Schulsystem wenig Raum hat, aber der Tradition der Ureinwohner entspricht. Wie unterscheide ich verschiedene Vogelarten, Wassertiere, Moose oder Gräser? Wie werden Wildkräuter getrocknet und Körbe geflochten? Neben solch praktischen Dingen steht auch ein fundierter Unterricht in Fächern wie Biologie oder Ökologie auf dem Programm.

Von Jokkmokk führt eine gut ausgebaute Straße Richtung Norden nach Gällivare und Kiruna. Nach etwa 80 Kilometern überqueren wir den Lule-Alv (Fluß). Hier herrscht alles andere als eine anachronistische Idylle. Ein großer Stausee mit einem Wasserkraftwerk vermittelt einen Eindruck vom modernen Industriestaat Schweden, der im Norden einen großen Teil seiner Energie gewinnt. Gigantische Hochspannungsleitungen, auf breiten Schneisen in den Wald hinein geschlagen, transportieren den Strom in die Industriezentren des Südens.

Das Kraftwerk Porjus nahe der Straße ist nur eines von 15 allein am Lule, die dem Fluß und seiner Umgebung ein ganz neues Gesicht gegeben haben. Vom Flußlauf mit seinen Stromschnellen und Wasserfällen ist nichts mehr zu sehen, statt dessen nur künstliche Seen und Dämme auf mehr als 100 Kilometern. Bei Niedrigwasser kommen erodierte Strände zum Vorschein, die Häuser und Siedlungen der Umgebung bedrohen. Insgesamt gibt es allein im schwedischen Teil Lapplands – oder Sapmi, wie die Einheimischen sagen – 29 Kraftwerke. Sie erzeugen mehr als ein Drittel der gesamten Wasserkraft, die ihrerseits die Hälfte des Energiebedarfs im Land deckt.

Die Wasserkraftwerke befinden sich in der Hand des staatlichen Energiekonzerns Vattenfall, ein ausgesprochen imagebewußtes Unternehmen. So hat Vattenfall zur Hauptreisezeit sogar ein Programm für Touristen und Touristinnen konzipiert. Reisegruppen können bei Kraftwerksführungen die technischen Errungenschaften bewundern und sogar Ereignissen beiwohnen, die es am Lule längst nicht mehr gibt: An manchen Tagen wird eine Luke im Kraftwerksdamm geöffnet, und dann entsteht die perfekte Illusion eines Wasserfalls. Offensichtlich sind die Beziehungen zwischen Energiekonzern und Tourismusbehörden hervorragend, denn das Fremdenverkehrsbüro Jokkmokk bemerkt in einer Broschüre über die Umgebung zum Staudammbau und den Folgen für die Samen: „Vattenfall, die staatliche Kraftwerksgesellschaft, ist ständig bemüht, eventuell auftauchende Benachteiligungen zu mildern.“

So viele Harmoniebekundungen gehen den Samen zu weit. Sie haben mit Vattenfall ganz andere Erfahrungen gemacht. Selbst offensichtliche Schadensersatzansprüche von Personen, deren Häuser in Flußnähe wegen der Erosion weggerutscht sind oder Risse bekommen haben, wurden von Vattenfall mit kostspieligen Prozessen in die Länge gezogen. Zwar kam der Konzern nicht umhin, in manchen Fällen zu zahlen, doch der juristische Spießrutenlauf verfehlte sein Ziel nicht. Die Zahlungen hielten sich in Grenzen, weil manche Samen aus Abneigung vor dem, was auf sie zukam, erst gar keine Ansprüche erhoben.

Die Regierung propagiert Wasserkraft als saubere und billige Energiequelle, und dem wollen sich auch die Samen nicht grundsätzlich verschließen. Das Ausmaß der Naturzerstörung sprengt jedoch jedes Maß. Wie anderswo auch haben die schwedischen Energiekonzerne mit weit überhöhten Energieprognosen die Regierungen in den siebziger Jahren zum lukrativen Kraftwerksbau animiert. Heute wird über den Bedarf produziert, und die Eingriffe sind nicht wiedergutzumachen.

Der Weg von Alta, einer Stadt am Nordmeer, hinauf zum berühmt-berüchtigten Alta-Staudamm, gegen den die Samen militant Widerstand leisteten, führt von einer Klimazone in die andere. Alta selbst liegt im Einflußbereich des Golfstroms, so daß trotz der nördlichen Lage ein relativ mildes Klima herrscht. Die Vegetation ist entsprechend üppig. Birken und Kiefern sind kräftig; Buschwerk zwischen den Häusern und an den Straßen vermittelt den Eindruck einer relativ grünen Stadt. An der Mündung des Alta-Flusses ins Eismeer verlassen wir den Ort und folgen der Straße dem Flußbett entlang Richtung Quelle.

Wir sind gewarnt worden. Die Straße zum Alta-Damm, etwa 40 Kilometer von der Stadt entfernt, sei gesperrt; angeblich aus Angst vor Anschlägen, denn dieser Damm ist das Symbol für den samischen Widerstand schlechthin.

Langsam, aber stetig geht es bergan. Klima und Umgebung ändern sich rasch. Es ist spürbar kälter, und von der Vegetation bleiben nur noch kleine verkrüppelte Birken übrig, die sich schutzsuchend an den Berg kauern. Nach knapp der Hälfte der Strecke dann ein Schlagbaum – der offen ist. Als wir die Hochebene erreichen, unterbrechen einzelne Seen das Panorama. Sie sind jedoch natürlichen Ursprungs. Die letzten kleinen Siedlungen haben wir längst hinter uns gelassen. Hier oben scheint alles wie ausgestorben. Nur einzelne Wohncontainer nahe der Straße bezeugen, daß die Zivilisation nicht weit weg ist.

Während der Auseinandersetzungen um den Alta-Staudamm zu Beginn der achtziger Jahre stand an dieser Stelle ein großes Zeltlager der Umweltschützer. Selbst im Winter bei minus 40 Grad haben die Samen und ihre internationalen Unterstützer hier ausgeharrt.

Wir wähnen uns bald am Ziel, als sich ein unüberwindliches Hindernis vor uns auftut. Der nächste Schlagbaum versperrt uns den Weg. Also gehen wir zu Fuß weiter. Auf einer gut ausgebauten, aber gänzlich unbefahrenen Straße geht es an malerischen Seen und Birkenbüschen vorbei. Als ständige Begleiter springen zahlreiche Rentiere aus dem Gebüsch hervor, überqueren die Straße, mustern uns und sind genauso schnell wieder verschwunden. Nach eineinhalb Stunden sehen wir den Damm vor uns, doch bis dorthin kommen wir nicht. Kurz bevor wir ihn erreicht haben, verschwindet die Straße hinter einer gigantischen Garage im Berg. Eine Aussichtsplattform oberhalb der Anlage gibt einen Überblick über das Szenarium. Zur Hauptreisezeit werden etliche Busladungen hierhergebracht. Der Damm ist vor allem in seiner Höhe beeindruckend. Eine zwar schmale, aber tiefe Schlucht dient als Stauort. Durch die Berge gehen die Leitungen zum Kraftwerk, das ebenfalls in den Berg hinein gebaut wurde. Welch ein Aufwand für ein Projekt, von dem selbst die norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland heute zugibt, daß seine Energiekapazitäten nicht benötigt werden.

Den Samen nützt diese Erkenntnis wenig; ebenso wenig wie seinerzeit die Besetzung der Baustelle im kältesten Winter oder ein mißlungener Sprengstoffanschlag. Dennoch war der Widerstand gegen den Alta-Damm für die samische Nationalbewegung ausgesprochen wichtig. Seitdem akzeptieren sie nicht länger die Rolle, Objekte staatlicher Planung zu sein. Dafür sorgt auch eine Generation neuer politischer Verantwortlicher, die mit den Umgangsformen der modernen Welt vertraut sind, wie Lars-Anders Bear, der Vorsitzende der Nationalen Samenvereinigung in Schweden. Wo immer der dynamische Mann auftaucht, das Mobiltelefon steckt griffbereit in der Brusttasche. Das braucht er auch, denn er ist meistens unterwegs. Dabei kann er sich ein Leben in der Stadt nicht vorstellen. Seine Basis ist Jokkmokk, wo Frau und Baby leben.

Den Wandel im Selbstverständnis betont Lars-Anders Bear auch im Bezug auf Tourismus: „Für die Regierungen waren wir jahrelang nur die Exoten, die Wilden. So wurden wir an die Welt verkauft, denn die Touristen, die hierherkommen, wollen ursprüngliches Leben sehen und keine zivilisierten Dörfer wie im Süden. Das haben wir akzeptiert, und deshalb sagen wir uns, wenn wir schon als Exoten vermarktet werden, dann wollen wir wenigstens etwas davon haben. Also beginnen wir nun selbst mit Tourismusprojekten.“

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