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„Es herrschte Stille, spukhafte Stille“

„Die ganzen ,Jubiläen‘ müssen wohl stattfinden. Aber ich empfinde sie als fürchterlich“, schreibt ein Deutscher, der als US-Soldat bei der Befreiung des KZs Dachau dabei war und nichts vergessen hat  ■ Von Holger Hagen

Am 29. April 1945 kam ich im Laufe des Nachmittags in Dachau an; die genaue Zeit und wie das Wetter war, weiß ich nicht mehr, solche Details sind von den verstörenden Eindrücken der folgenden Stunden und Tage verdrängt und ausgelöscht worden.

Wir kamen aus Richtung Aichach, die Strecke war bereits mit Army-Wegweisern markiert. Die wenigen deutschen Zivilisten, die sich auf den Straßen befanden, wirkten verstört und verängstigt – völlig anders, als ich es in besetzten Orten bislang erlebt hatte. Wir fanden ohne Mühe den offenen Platz vorm Lager-Haupteingang – den es heute nicht mehr gibt. Das Areal dort ist jetzt – vorsorglich?! – mit Gewerbe- und Industrieanlagen bis an die Lagermauern zugebaut. Auch das Haupttor mit dem in kunstvollen schmiedeeisernen Lettern eingewirkten „Willkommens“-Spruch: ARBEIT MACHT FREI, bei dessen Anblick damals eine fast betäubende Wut über diesen eiskalten Zynismus in mir aufzusteigen begann, ist heute nicht mehr zu sehen oder zu begehen. Dieses unsägliche Tor war das erste, was ich sah.

Und dann sah – und roch! – ich das, was es heute auch nicht mehr gibt, und was ich heute nicht glauben würde, hätte es sich damals nicht unauslöschlich – bis zu meinem Lebensende unauslöschlich – ins Gedächtnis eingebrannt: Den Güterzug auf dem bis an die Lagermauer führenden Nebengleis. Es war eine Reihe von ganz normalen Güterwagen, ich weiß nicht mehr wie viele, aber es waren eine ganze Menge. Die meisten waren verschlossen, und was sie enthielten, konnte man nur riechen. Aber bei einigen waren die Türen, erkennbar mit Gewalt, aufgebrochen und der „Inhalt“ war in einem infernalischen Strom herausgequollen: Menschen, die Reste von Menschen, Leichen.

Die Details erfuhr ich bald danach: Vor den heranziehenden allierten Truppen waren die Konzentrationslager im Norden und Osten, soweit es ging, geräumt und die Häftlinge nach Süden transportiert worden, zum Teil in solchen Güterzügen, eingepfercht, ohne Wasser, ohne Nahrung. Einer dieser Transporte war wenige Tage vorher hier angekommen. Im Lager war kein Platz mehr gewesen, und so hatte man den Zug einfach stehen lassen. Mit welcher Kraft der Verzweiflung es den Insassen einiger Wagen gelungen war, die verschlossenen Türen aufzubrechen, wird niemand erfahren. Auf dem Lager-Vorplatz waren MGs postiert gewesen, und was ins Freie drang, wurde kaltblütig abgeschossen. Da lagen sie nun, wie aus einer Darstellung des jüngsten Gerichts von Hieronimus Bosch. – Neben mir hörte ich einen meiner Sergeants, er flüsterte erst, und das Flüstern steigerte sich rasch bis zum Schrei: „My God, Lieutenant! My God! Oh, Jesus Christ almighty! Noooooooo!“ Ich habe ihn um diesen Schrei beneidet. Mir war er in der Kehle erstickt. Die linke Grenze des Platzes wurde von den Reihen der Lagerbaracken markiert, die in geometrischer Ordnung auf beiden Seiten einer Art Allee ausgerichtet waren. In diese Richtung gingen fast alle, die wie wir die Anlage gerade betreten hatten, und wir schlossen uns diesem Zug an, eigentlich ohne zu überlegen warum. Es war wie ein Gang in und durch einen Alptraum; mit der Realität hatte das alles nichts zu tun. Wo in der wirklichen Welt würde man Erscheinungen begegnen, wie sie hier umherirrten und uns ebenso fassungslos-ungläubig anstarrten, wie wir sie? Das waren lebende Tote, deren Knochengerüst unmittelbar unter gelblicher Haut sichtbar hervortrat, deren kahlgeschorene Schädel fast nur aus Augen zu bestehen schienen, die uns leer und scheinbar blicklos verfolgten. Auf Fotos, die wenig früher in der unmittelbaren Stunde der Befreiung des Lagers gemacht worden waren, habe ich später lachende Gesichter gesehen. Bei diesem Gang sah ich nirgends ein Lachen; ich sah Angst und Unsicherheit, meist aber nur völlige Apathie. Und es herrschte Stille, absolute, spukhafte Stille; niemand sprach ein Wort. Ein Alptraum eben. Ich wollte aufwachen, auf-wa-chen!

Aber es wurde noch schlimmer: Am Ende der „Allee“ ging es nach links zu einem bunkerartigen Bau, zu dem alles hinstrebte. Eine schwere, feuersichere Tür in der Vorderseite schien der einzige Eingang zu sein; Fenster waren keine zu sehen. Durch diese eine offenstehende Tür ging der Strom der „Befreier“ auf der einen Seite langsam hinein – und drängte auf der anderen fluchtartig wieder heraus. Als ich den Raum betrat, der nur von dem durch die offene Tür einfallenden Licht beleuchtet war, wurde mir klar, warum alle es so eilig hatten, wieder ins Freie – an die Luft! – zu kommen.

Dies war wohl der Vorraum des Krematoriums. Und er war als Gaskammer voll eingerichtet und ausgerüstet, wenn er auch (was ich erst sehr viel später erfuhr) als solche noch nicht in Betrieb genommen worden war. Das als Brausekopf getarnte Gasventil war deutlich an der Betondecke zu sehen. Man war förmlich gezwungen, nach oben zu schauen, denn in dem Raum türmte sich, fast bis zur Decke, ein Berg aus – nackten Leichen. Ich stand einen Augenblick wie erstarrt, und dann hatte ich das dringende Bedürfnis: raus, RAUS, R A U S! Aber dieser kurze Moment des absoluten Entsetzens hatte genügt, um mir das, was ich sah, für immer einzuprägen. Als das Allerschlimmste empfand ich die unfaßbare Beleidigung der Menschenwürde, die sich in diesem willkürlich aufgetürmten Haufen von Nacktheit manifestierte: Körper auf Körper wahllos hingeworfen, wie man Müllsäcke auf eine wilde Deponie schmeißt. Seltsamerweise fand ich es ganz besonders abstoßend, daß weibliche und männliche Körper unmittelbar auf- und nebeneinander lagen. Selbst im Tod, so ging es mir durch den Kopf, war das eine verabscheuungswürdige, zusätzliche Mißachtung der Intimsphäre.

Erst als ich draußen war, bemerkte ich die Soldaten, die nur wenige Schritte abseits standen, nebeneinander aufgereiht – und kotzten. Ich gesellte mich zu ihnen. Das waren keine grünen Rekruten, die vom Krieg noch nichts gesehen hatten. Das waren Männer, die am D-Day das Gemetzel an den Stränden der Normandie überlebt, die den Brückenkopf von Anzio-Nettuno durchgemacht und den deutschen Vorstoß in den Ardennen abgefangen hatten. Ich hörte einen Feldwebel neben mir sagen, als er sich mit entleertem Magen wieder aufrichtete: „I thought I'd seen everything! O shit!“ Aber der Alptraum war noch nicht zu Ende. Vorne am Tor herrschte eine sonderbare Unruhe. Der Posten salutierte wie abwesend und wandte sich sofort wieder ab, um nach draußen zu schauen, wo auf der gepflegten Grasfläche des Vorplatzes eine Gruppe amerikanischer Soldaten sich versammelt hatte und einen Kreis bildete. Ich fragte den Posten, „What's going on?“ Die Antwort kam verstört und fast aggressiv: „I don't know, Lieutenant, and I don't want to know!“ Leise fügte er hinzu, „I'm afraid it aint't very pretty.“

Ich ging mit einem mulmigen Gefühl hinüber zu den Soldaten, die mir wortlos Platz machten, und trat in den stummen Kreis. Und dann wußte ich endgültig, daß ich tief im schlimmsten Alptraum meines Lebens war – oder aber ich war gestorben und in der Hölle. Was ich sah, konnte nicht, durfte nicht Wirklichkeit sein.

Eine Gruppe von sechs bis acht Häftlingen hatte einen von den SS- Wachen erwischt, hatte ihn hier unmittelbar vorm Lager-Tor eingekreist und war dabei, ihn zu Tode zu treten. Wo und wie sie ihn entdeckt hatten, wie sie hierher, außerhalb der Lagermauern, gekommen waren – wer wußte es? Ohne Duldung der Torwache konnten sie nicht hier sein; wen interessierte das? Sie waren hier und wir standen im sprachlosen Kreis um das Geschehen herum, und sie traten einen ihrer Peiniger tot.

Der Mann war groß und hatte einen massigen Körper, ein bulliger vierschrötiger Kerl. Auch daß er kurzgeschorene rötlich-blonde Haare hatte, weiß ich noch, die ihm stachelig vom schweren Schädel abstanden. Seine Gegner waren ihm an Größe und ganz gewiß an Kraft einzeln in keiner Weise gewachsen. Sie waren allerdings weniger ausgemergelt als die Untoten, die ich eben noch im Lager gesehen hatte. Aber sie waren zu mehreren, und sie trugen feste Stiefel. Lange konnte diese Aktion noch nicht im Gang gewesen sein, aber das Opfer war bereits schwer gezeichnet; ich weiß nicht einmal, ob er noch bei vollem Bewußtsein war; seine Bewegungen erinnerten an die eines angeschlagenen Boxers, der nur noch von seinen Reflexen auf den Beinen gehalten wird. Er taumelte, aber wenn er fiel, stand er immer wieder auf, torkelte auf den sich langsam verengenden Kreis seiner Gegner zu, als suche er eine Lücke, durch die er sich retten könne, und lief so, nach vorne fallend, immer von neuem direkt in einen weiteren Tritt hinein, der nun fast jedesmal seinen Kopf traf.

Das Fürchterliche dieses Geschehens wurde noch gesteigert durch die Tatsache, daß es vollkommen lautlos ablief. Kein Ruf, kein Schrei, nichts außer einem dumpfen, grunzenden Atemlaut des Opfers war zu hören, wenn ein Fußtritt ihn traf. Und im Bewegungsablauf schien alles in extremer Zeitlupe vor sich zu gehen.

Irgendwann ging es mir durch den Kopf: Du mußt einschreiten, du darfst das nicht geschehen lassen, tu doch etwas! Aber gleichzeitig wußte ich, daß ich nichts tun würde, daß das hier seinen Lauf nehmen mußte – und daß ich es wahrscheinlich auch nicht würde aufhalten können, wenn ich es wollte. Wie jeder in diesem Kreis der willenlos Zuschauenden war ich gelähmt, und wie jeder empfand ich tief in meinem Inneren, daß hier auf eine furchtbare Weise Gerechtigkeit geschah.

Es ging dann sehr rasch zu Ende – lautlos bis zum Schluß. Irgend wann stand der schwere Mann nicht mehr auf. Die Rächer umstanden seinen liegenden Körper nun in engstem Kreis und jeder, der Reihe nach, aber gänzlich ohne Absprache, ohne Zeichen, ohne ein Wort – ja, ohne sichtbare Emotion – trat noch einmal zu. Bewirken taten diese letzten Tritte sicherlich nichts mehr; der Mann mußte tot sein. Es war wie das Beenden eines Rituals. Und dann, weiterhin wortlos, lautlos, löste sich der fürchterliche Spuk ganz rasch auf. Zurück blieb ein blutiger, zerfetzter Klumpen Fleisch, um den sich – zu dem Zeitpunkt – niemand kümmerte. Zuschauer wie Täter gingen einzeln und in verschiedenen Richtungen ihrer Wege. Die Häftlinge gingen zurück ins Lager; der Posten am Tor schaute in die andere Richtung.

Meine Leute und ich – noch stumm vor Entsetzen – waren unterwegs zu unseren Jeeps, als wir von einem Unteroffizier der 42. Division abgefangen wurden. Unsere Fahrzeuge trugen das Kennzeichen des Armee-Hauptquartiers, und unsere Anwesenheit im Lager hatte sich herumgesprochen. Als es sich herausstellte, daß wir alle Deutsch sprachen, bettelte man uns förmlich an, dazubleiben und zu helfen. Man war ohne geschultes Personal im herrschenden Chaos einfach überfordert. Wir blieben also bis zum späten Nachmittag des nächsten Tages. Geschlafen haben wir wenig, gegessen nicht viel mehr. Es galt zu befragen, zu registrieren, zu verhören und immer wieder Fragen zu beantworten. Mit unseren Deutschkenntnissen kamen wir gar nicht so weit. Es waren zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Deutsche im Lager; das Gros der verbliebenen Häftlinge bestand aus Polen und Russen. Aber wenigstens radebrechen konnte man, und ein wenig half das weiter.

Bis zum späten Nachmittag des 30. April war das Durcheinander im Lager zumindest so weit behoben, daß ich mich wieder auf meinen Marschbefehl berufen und mich auf den Weg nach München machen konnte, wo die amerikanischen Truppen die Stadtgrenze erreicht hatten. Als wir bei einbrechender Dunkelheit losfuhren, hatte es begonnen zu schneien, und es war wenig gemütlich in den offenen Jeeps. Und doch waren wir alle fünf in fast fröhlicher Stimmung – das lastende Grauen der vergangenen Stunden war – vorerst – von uns gefallen; wir hatten das Gefühl, wieder durchatmen zu können. Tief im Bauch allerdings saß uns allen eine ungeheure Wut auf alles Deutsche. Es hat sehr lange gedauert, bis die sich etwas legte. In München dann, in den frühen Morgenstunden, irgendwo zwischen der Dachauer und der Nymphenburger Straße, hat noch ein verbohrter Landser versucht, uns in eine Falle zu locken; er meinte wohl, für seinen Führer bis zum letzten Blutstropfen kämpfen zu müssen – und das tat er. Ich habe meine letzte Handgranate in diesem Krieg geworfen. Als ich sie warf, dachte ich: „Die ist für Dachau, ihr Drecksäue!“ – In einem Synchronstudio kaum 100 Meter von dem Ort dieses Geschehens entfernt, habe ich dreizehn Jahre später meine Frau kennengelernt.

Bis zum Januar dieses Jahres habe ich es peinlich vermieden, Dachau wiederzusehen. Dann aber kam ich trotz großer Zweifel der Bitte eines Freundes nach, mit ihm die Gedenkstätte zu besuchen. – Man betritt den Komplex jetzt quasi durchs Hintertürl. Das ehemalige Hauptgebäude steht unverändert, aber von der ganzen Baracken- „Allee“ blieben nur zwei nachgebaute, sauber strahlende Baracken als Begrenzung des mit weißem Schotter parkartig gepflegten Appellplatzes. Die Ausstellung mit riesigen Fotos, Statistiken, faksimilierten Akten und einem glänzend gemachten Dokumentarfilm ist hervorragend und gewissenhaft zusammengestellt. Das Mahnmal mit den im Stacheldraht hängenden Gestalten ist überwältigend. Aber ... wo ist der Verwesungsgestank, den ich seit damals immer noch in der Nase habe, wenn der Name Dachau fällt? Wo sind die Leichen der erschlagenen SS-Wachen? Wo ist der unvorstellbare Güterzug, aus dessen aufgebrochenen Türen die Leichen quollen? Wo sind die lebenden Toten? Wo ist der Leichenberg im Krematorium, bei dessen Anblick die amerikanischen Frontschweine reihenweise das Kotzen gekriegt hatten? Das Dachau, das ich damals erlebt hatte, existiert nicht mehr – Gottlob! Aber das, was dort heute „dargeboten“ wird, ist für mich wie eine – wenn auch ungewollte – Fälschung. Es ist eine Kulisse.

Ich habe diese Eindrücke dem ehemaligen Auschwitz- und Dachau-Häftling Max Mannheimer erzählt. Er sah mich traurig lächelnd an und meinte: „Ich kann Sie verstehen. Aber die Leichen können wir leider nicht wieder da hinlegen.“ Das ist es im Grunde, was ich meine. Die ganzen „Jubiläen“, die jetzt hübsch der Ereignisreihe nach „gefeiert“ werden, müssen wohl stattfinden. Aber ich empfinde sie als fürchterlich. Man spielt „Gedenken“; man fühlt sich erleichtert, weil man brav bereut und öffentlich gelobt hat, daß „so etwas nie wieder geschehen“ darf; man zieht dann „endlich“ den allzuoft geforderten „Schlußstrich“ – und geht zur Tagesordnung über. Ich kann das nicht. Dachau ist seit dem 29. April 1945 in meinem Hirn und in meinem Herzen. Und bis ans Ende meiner Tage klingt in meinen Ohren die unerbittliche Feststellung Andrzej Szczypiorskis: „Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts tragen wir alle das Lager in uns.“

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