: Er wollte Adrenalin hervorkitzeln
Orson Welles zum 80. Geburtstag: Simon Callow, selbst Schauspieler, führt uns durch die Requisite ■ Von Mariam Niroumand
Irgendwie paßt es seltsam zu diesem gedenkschweren heißen Mai, daß nun auch noch Orson Welles mit seinem 80. Geburtstag ins Spiel kommt. Düster, ominös, eine halbversteinerte Patriarchengestalt – Welles ist nicht der einzige, der so erinnert wird. Mit einer Radiostimme, die zugleich extraterrestrisch und verführerisch intim geklungen haben muß, hat er seine Hörer zu Hörern reduziert. Er war kein Macho; es heißt, während seine Hände gespenstisch geschickt und omnipräsent waren, war sein Gang der eines Geschubsten: vornüber gebeugt, an einem zu großen Kopf schwer tragend. Wie gesagt: Verführung was his middle name. Wie ihm auf die Schliche kommen? Und warum?
Simon Callow, sein jüngster und – neben Peter Bogdanovich – sicher profundester Biograph, hat es im soeben erschienenen Band „Orson Welles – The Road to Xanadu“ gar nicht erst versucht. Callow, der liebende Schwule aus „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, nähert sich Welles offiziell wie ein Schauspieler einem anderen, als ein in der englischen Theaterlandschaft Geschulter, der einen Amerikaner mit Europabildung porträtiert. Inoffiziell (aber nicht verheimlicht) strömt es durch die Zeilen: „Ich hätte auch ja gesagt, ich hätte ja gesagt, ja gesagt.“ Womöglich gibt es keinen glücklicheren Zugang zu Pookles, wie Orson Welles von seinem Loser-Vater genannt wurde: Die schwule Sensibilität mit ihrer Sympathie für Maskerade folgt dem Konstruktionsprozeß von Welles' Persona, ohne allerdings mit decouvrierendem Gestus daherzukommen. Tarnung ist immer, bedeutet Callow seinen Lesern achselzuckend, und so schichtet er uns Kostüm auf Kostüm, wie ein netter Requisiteur.
Wie der Titel schon nahelegt, läuft für Callow dennoch alles auf „Citizen Kane“ zu, eine Teleologie, die nicht so recht zu dem freien Umgang mit Metamorphosen passen will. „A Touch of Evil“, „The Stranger“ oder „Lady from Shanghai“ kommen auf diese Weise nicht mehr zum Zug. „Citizen Kane“ war, wie es dem Biographen wohl gefiel, das Produkt einer Männerfreundschaft aus der Zeit, als Orson Welles vom Broadway nach Hollywood gezogen war. Man liebte ihn dort nicht, einen Rotzlöffel von Anfang zwanzig, der seinem Studio RKO Bedingungen diktierte, die sich nicht einmal ein John Ford erlaubt hatte. Herman J. Mankiewicz sah ihn, und es war „laugh at first sight“: Mankiewicz war ein Wrack, jüdischer Antisemit, seit 25 Jahren an der Flasche, erzwungenermaßen englische Manieren, kein Geld, aber dafür eine gallige Schreibe, die von den Studios über so manches lahme Drehbuch geträufelt wurde – zur Not auch ohne Nennung seines Namens. Kurz: Beide hatten Grund genug, Hollywood zu hassen. Das beste Haßobjekt am Ort war der Pressezar William Randolph Hearst, von dessen Partys Mankiewicz verbannt worden war, seit sich seine alkoholischen Exzesse nicht mehr mit einer gediegenen Konversation vertrugen. Hearst hatte alles, was die beiden wollten: Er war jüngste amerikanische Geschichte, er war ein bißchen Hitler, er war mal ein Liberaler gewesen und erst im bitteren Alter zum Mussolini-Freund geworden, seine antikommunistischen Pro-familia-Ansichten paarten sich aufs frivolste mit einer Liebesaffäre, von der alle wußten und über die niemand sprach – eine WASP-Institution. Sie nannten ihn Kane.
Ein dramatisch begabtes Kind
Callow ist der Auffassung, daß, wenn es etwas gibt wie das Drama des begabten Kindes, Orson Welles sein bester Regisseur, Drehbuchschreiber und Darsteller war. So soll er auch zu Kane gekommen sein: Kane war ein verwöhntes Kind, ohne allerdings die Zuneigung des Verwöhntwerdens abzubekommen. „Wir wollten“, sagte Welles Jahre nach Abschluß der Dreharbeiten in einem Plagiatsprozeß, „einen Mann zeigen, der eine Position von öffentlicher Verantwortung anstrebt, ohne allerdings selbst irgendeinen Sinn von Verantwortung zu besitzen, nur eine Reihe von guten Absichten, unklaren Gefühlen und dumpfen, undefinierten Sehnsüchten ...“
Kann schon sein, daß Callow recht hat: Ein Hauch von Mißbrauch hängt über Welles' frühen Jahren, eine höchst subtile Art von Mißbrauch. Dem Zweijährigen las die Mutter Shakespeare vor, in der Erwartung, ihn schon bald zu einem Seelenverwandten zu formen. Ein Arzt, der die Familie einmal wegen eines Treppensturzes des unglückseligen älteren Bruders Richard besuchte, mußte erstaunt hören, wie der eineinhalbjährige Orson zu ihm sagte: „Der Wunsch, Medizin einzunehmen, ist eine der großartigsten Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterscheiden.“ „Kinder“, erklärte Welles später gegenüber Vogue, „wurden solange wie Erwachsene behandelt, wie sie amüsant waren.“ Daß er das lange genug gewesen ist, beweist die Lokalzeitung aus Kenosha, Wisconsin, wo er heute vor achtzig Jahren geboren ist: „Cartoonist, actor, poet – and only 10“ steht über einem Foto von ihm. Für seine Mutter war es nicht lange genug: Sie starb, als er noch ein sehr junges Kind war und bat ihn noch von ihrem Sterbebett aus, seine Geburtstagskerzen auszublasen und dabei einen Wunsch zu äußern. Als das Licht aus war, war sie tot – eine grausige Inszenierung bis in ihre letzten Minuten, die ihn wohl bis in seine letzten Minuten befeuert hat.
Zu tiefenpsychologisch will aber auch Callow es nicht machen, und so entwickelt er den künstlerischen Guß, aus dem „Citizen Kane“ gemacht ist, aus wichtigen ästhetischen Begegnungen in Welles' Leben: dem Summerhill ähnlichen Internat, auf das seine zwei hilflosen Väter ihn schickten, wo er nicht nur Bühnenbilder baute und zeichnete, sondern erste Klassikerproduktionen inszenierte. Dem Chicago der zehner Jahre, das sich stolz „Porkopolis“ nannte, das jazzige Zentrum des Fleischhandels, mit den Morden, den Brückengedichten und Stahlhochbauten, die nicht aus Notwendigkeit, sondern aus ästhetischen Gründen errichtet wurden; und natürlich den Theatern: Stanislawski und sein Moskauer Kunsttheater, das Habimah Theater, Mei-Lan- fang, Stratford-upon-Avon und allerhand Experimente mit Licht, Symbolismus und Design, die Oper nicht zu vergessen.
Dann Dublin, ausgerechnet Dublin, wo Welles als Teenager seine ersten Bühnenauftritte hatte – und prompt als Wunderkind durch den Blätterwald rauschte; New York aber, der Broadway, wo er nach einigen Monaten London, Tanger, Singapur, München und Paris landete, hatte wohl den entscheidenden Einfluß. Als er dort ankam, war er voller Shakespeare, während der Broadway Politik machte. Die kommunistische Partei heuerte die Schauspieler an, stellte Quartiere und warme Suppen und die anschließenden Debatten. Welles fühlte sich mit all dem ebenso wenig wohl, wie mit Stanislawski, der „Methode“ oder irgendeiner Form von Freudianismus. Glücklicherweise fiel er damals einer Dame in die Hände, die dabei war, ganz im Geist des Rooseveltschen „New Deal“ ein staatliches Theaterunternehmen aufzuziehen, eine Art künstlerisches Gesundheitsprogramm. Mit Hilfe von Leuten wie Martha Graham wurden Stücke über Landwirtschaft, Syphilis, öffentliches Eigentum und gar ein Marionettentheater über zu schnelles Fahren überall im Land vorgeführt.
Welles hatte sich allerdings vorgenommen, den ohnehin schon skeptischen Kritikern etwas zum Fraß vorzuwerfen und beschloß, „Macbeth“ in Harlem zu inszenieren, mit einem komplett schwarzen Ensemble. Das war 1935, da war Welles gerade zwanzig. Seine Harlemites waren zu 80 Prozent Arbeitslose, die Stimmung in Harlem, zehn Jahre nach dem demütigenden Untergang der Harlem Renaissance, eher geladen. Es hat aber wohl vor allem deshalb funktioniert, weil Welles nie auch nur den Hauch einer multikulturellen Attitüde hatte. Korrektheit war nicht sein Problem.
Wo er irgend konnte, spielte er Klassiker. Als Schauspieler waren ihm dabei Laien wie seine Harlemites die liebsten. „Mit den Ideen hatte er es nicht so. Er liebte es, Adrenalin hervorzukitzeln“, schreibt Callow. Welles hatte seine Finger in allem: von den Kostümen über die Musik und vor allem dem Bühnenbild. Daß er in „Citizen Kane“ so sehr bereit war, sich von seinem Kameramann leiten zu lassen, ist wohl Gregg Tolands genialer Verwendung dessen zu verdanken, was später „subjektive Kamera“ hieß.
Das alles erinnert hierzulande vor allem an Fassbinder, natürlich auch an Wagner. Welles selbst scheint sich an den anderen „One- man-show“-Filmern, Capra, Preston Sturges und natürlich Walt Disney orientiert zu haben; unter denen er und Chaplin die einzigen Schauspieler waren. Fünfundvierzigmal will er John Fords „Stage Coach“ gesehen haben, für die Arbeit an „Citizen Kane“ vor allem Rosselini und de Sica.
Daß er einen Vertrag mit RKO schloß, der ihn zu einem Film im Jahr und relativ vielen Konzessionen an das Studio verpflichtete, anstatt am Theater zu bleiben, wo er eigentlich immer sein wollte, hing schlicht mit der Depression und ihren Folgen zusammen: Broadway- Theater fielen wie die Fliegen, und mit der Einführung des Tonfilms hatte Hollywood einen immensen Bedarf an ausgebildeten Schauspielern, von denen die besten reihenweise an die Westküste zogen.
Aber irgendwie hat Welles das Theater natürlich doch mit in den Film hineingenommen: Die berühmte Tiefenschärfe in „Citizen Kane“, die den Räumen vier Wände und den Augen freie Wahl gibt, machte eine Bühne aus Kanes Festung Xanadu, kein Naturalismus, sondern ein Triumph des Willens. Daß Welles später alle Erwähnungen von Stalin, Churchill und Hitler aus dem Film herausnahm, verstärkt diesen Effekt noch. Als „Citizen Kane“ mit dem Oscar für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, war Orson Welles längst anderswo.
Simon Callow: „Orson Welles. The Road to Xanadu“. Jonathan Cape, London, 1995, 64 Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen