■ Interview mit Tschechiens Präsidenten Václav Havel
: Die Last der Vergangenheit abwerfen

taz: In wenigen Tagen, am 8. Mai, jährt sich zum 50sten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit 50 Jahren leben Deutsche und Tschechen nicht mehr zusammen in einem Staat. Wie hat sich in der Tschechischen Republik in dieser Zeit das Urteil über die Vertreibung der Deutschen geändert?

Vaclav Havel: Fünfzig Jahre lang war das Thema Ausweisung tabu. Die Kommunisten gestatteten keine Diskussion hierüber. Dennoch gab es sie. Die Charta 77 gab ein Dokument heraus, in dem die Ausweisung kritisiert wurde. Es diskutierten auch Historiker, aber natürlich nicht die offiziellen, sondern diejenigen die Publikationsverbot hatten. Nach oder besser während der Revolution 1989 habe ich, damals noch nicht Staatspräsident, sondern nur Kandidat für dieses Amt, unsere frühere Kritik mehrmals öffentlich wiederholt. Für die tschechische Gesellschaft war das ein Schock. Aber weil wir uns alle in dieser revolutionären euphorischen Stimmung befanden, haben die Tschechen es mir verziehen. In den vergangenen fünf Jahren hat sich in diesem Bereich viel getan. Heute kann das Thema Ausweisung nicht mehr schockieren; es ist ein legitimes Thema geworden, auch wenn weiterhin viele meine Meinung über die Vertreibung nicht teilen. Ich finde, daß wir in diesen fünf Jahren angesichts einer fünfzigjährigen „Nichtdiskussion“ schon sehr weit gekommen sind.

Sie haben gesagt, Ihre Kritik an der Vertreibung war für die Tschechen ein Schock. Denken Sie heute, daß diese Kritik zu früh kam?

Nein. Wenn man heute über dieses Thema sachlich diskutiert, liegt das auch daran, daß ich diese Debatte eröffnet habe. Wenn wir erst heute beginnen würden, hätten wir fünf Jahre versäumt.

Sie haben in Ihrer am 17. Februar im Prager Carolinum gehaltenen „Rede über die Nachbarschaft“ Ihr Deutschland-Bild dargestellt. Sie sagten: „Ich glaube an das Deutschland von Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Ludwig Erhard, Willy Brandt und Richard von Weizäcker.“ Ist das nicht etwas einseitig, wurde Deutschland nicht auch geprägt von den Bürgerbewegungen der 70er und 80er Jahre?

Diese Bewegungen sind natürlich sehr wichtig. Und wir Dissidenten haben ja gerade zu ihnen intensive Kontakte gehabt. Ich hätte bei der Aufzählung auch Günter Grass oder Heinrich Böll erwähnen können. Aber ich mußte mich irgendwie beschränken. Daher habe ich nur Präsidenten und Kanzler angeführt, und auch hier nur diejenigen, die keine politische Funktion mehr haben.

Die Bürgerbewegungen in Ost und West haben heute fast jeden Einfluß auf Politik und Gesellschaft verloren. Politik wird, so scheint es, wieder von Politikern gemacht. Der Bürger wird zum Privatier. Erleben wir das Ende der „civil society“?

Wenn es so wäre, dann würde ich dies als großes Unglück ansehen. Denn ich meine, daß gerade in unserer technisierten Zivilisation, in der sich immer mehr Mikrogesellschaften bilden, die miteinander immer weniger zu tun haben, sich die Politik nicht allein im Fernsehen abspielen darf. Gerade in dieser Zeit der Individualisierung, in der die Bedeutung des einzelnen ständig wächst, brauchen wir eine Bürgergesellschaft in all ihrer Vielfalt. Ich selbst engagiere mich sehr für das Entstehen einer solchen Gesellschaft bei uns. Aber es ist auch klar, daß das Engagement der Bürger heute eine andere Form als zu Zeiten der Teilung der Welt in zwei Blöcke finden muß.

Gibt es eine „civil society“ in Tschechien?

Bei uns gibt es heute überraschenderweise eine Vielzahl von unabhängigen Initiativen. Worüber ich mich sehr freue. Denn dieses Engagement zeigt, daß die Bürger auch nach 50 Jahren Kommunismus selbst aktiv werden und nicht immer nur darauf warten, daß der Staat ihre Probleme löst. Dennoch muß der Staat auch in diesem Bereich aktiv werden. Der Staat muß der Bürgergesellschaft bestimmte Regeln geben. Bei uns fehlt zum Beispiel bis heute ein Gesetz über Stiftungen. Die Folge ist, daß wir 6.000 solcher Einrichtungen haben und die Hälfte davon keine gesellschaftlichen, sondern private Interessen verfolgt.

Zurück zu den deutsch-tschechischen Beziehungen. Seit Ihrer Rede im Carolinum scheinen sie wieder in Bewegung zu kommen. Bundespräsident Roman Herzog besuchte Sie am Wochenende in Prag, am Donnerstag trafen Sie mit Joschka Fischer und Antje Vollmer zusammen.

In den letzten Wochen gab es eine Vielzahl von Kontakten, nicht nur auf der Ebene der Präsidenten. Inzwischen ist ein gutes Gesprächsklima entstanden. Wir lernen uns so besser kennen und können dann offener über die Probleme unserer Beziehungen sprechen. Wir denken darüber nach, wohin wir eigentlich wollen. Das nächste Ziel unserer Seite ist eine gemeinsame Deklaration der Parlamente beider Staaten. Die Abgeordneten sollten erklären, daß sie keinen Versuch, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs in juristischer, politischer oder ökonomischer Hinsicht zu verändern, unterstützen werden. Sie sollten erklären, daß beide Staaten nach vorn schauen und die gemeinsamen Beziehungen nicht mit den Resten vergangenen Unrechts belasten wollen.

Erwarten Sie, daß Bonn die tschechischen Opfer der NS-Herrschaft entschädigt?

Die Tschechische Republik hat diesen Opfern inzwischen eine Entschädigung gezahlt, dennoch gilt weiterhin: Wenn die Bundesregierung eine Entschädigung beschlösse, wäre das ein Entgegenkommen, das die deutsch-tschechischen Beziehungen vor allem in psychologischer Hinsicht verbessern würde. Und es würde zu einem Entgegekommen von unserer Seite führen. Es geht nicht um das Geld als solches, für Deutschland ist das eine unbedeutende Summe, und selbst für uns ist sie nicht allzu hoch. Wichtig ist die Geste.

Stimmt es, daß der Dialog mit tschechischen Politikern im Moment fast ausschließlich von der Opposition, nicht aber von der Bundesregierung geführt wird?

Die deutsche Regierung hatte in letzter Zeit sicherlich eine Menge von Problemen, die wichtiger waren. Die Bundestagswahlen oder die mit der Vereinigung zusammenhängenden Probleme. Die tschechisch-deutschen Beziehungen standen da erst auf dem Verzeichnis der zweitrangigen Interessen. Ich verstehe das. Aber jetzt scheint die Zeit dafür reif zu sein, daß sich die Aufmerksamkeit der deutschen Regierung auch anderen Bereichen zuwendet.

Nach dem Besuch von Bundespräsident Herzog am vergangenen Wochenende haben Sie im tschechischen Fernsehen gesagt, daß nach der gemeinsamen Deklaration der Parlamente „einiges möglich“ sein könnte. Was heißt das konkret?

Ich dachte dabei in erster Linie an die Initiative, die vom jetzigen tschechischen Außenminister Jozef Zieleniec ausging und über die schon diskutiert wurde, als es die Tschechoslowakei noch gab. Wir wollen ein Zeichen setzen, wir wollen all denjenigen, die schon einmal die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft hatten, die Möglichkeit geben, diese Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. Das würde nicht nur die Sudetendeutschen betreffen, sondern auch viele tschechische Emigranten und auch die Slowaken, die ihre tschechische Staatsbürgerschaft verloren haben. Auch dieser Vorschlag hat aber eher psychologische Bedeutung, denn faktisch gibt es im Moment ja weder in Deutschland noch bei uns die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Und welcher Deutsche wäre wohl bereit, auf seine Staatsbürgerschaft zu verzichten und die tschechische anzunehmen?

Vor kurzer Zeit wurde in Deutschland der Appell „Gegen das Vergessen“ veröffentlicht. Den deutschen Unterzeichnern ging es hierbei vor allem daran, an die Opfer der Vertreibung zu erinnern. Deren Ursachen wurden aber nicht thematisiert. Ändern solche Töne Ihr positives Deutschland-Bild?

Ich denke, die Arbeit der Vertriebenen, der Landsmannschaften wird bei uns mehr beachtet als in Deutschland. Ich habe gerade gelesen, daß die Mehrheit der Bundesdeutschen gar nicht weiß, wer diese Landsmannschaften überhaupt sind. Daher würde ich dies nicht überbewerten. Den politischen Vertretern der Vertriebenen ist wohl klar, daß dieses Jahr das letzte ist, in denen noch jemand auf sie achtet. Und daher entwickeln sie vielfältige Aktivitäten. In diesem fünfzigsten Jahr nach Kriegsende denken wir besonders intensiv über die Vergangenheit nach. Aber vielleicht ist es möglich, danach diese Diskussion über das, was war, abzuschließen. Vielleicht ist es möglich, nun in die Zukunft zu sehen.

Und wie könnte diese Zukunft aussehen?

Unser Vorbild sollte die deutsch-französische Annäherung sein. Wünschenswert wäre also zum Beispiel die Einrichtung eines deutsch-tschechischen Jugendwerkes. Die deutsch-tschechische Zusammenarbeit funktioniert ausgezeichnet auf ökonomischem Gebiet. Warum sollte dies nicht auch in den sogenannten „nichtprofitablen“, also den gesellschaftlichen Bereichen möglich sein? Und am wichtigsten: Es geht nicht nur um Deutschland und Tschechien, es geht um das Zusammenleben in einem geeinten Europa. Hierauf sollten wir unsere Anstrengungen konzentrieren. Interview: Sabine Herre