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Kriegsmüdigkeit in Berg Karabach

Der armenisch-aserbaidschanische Konflikt  ■ Von J. Gottschlich

„Brauchen wir die Pässe?“ – „Ja, ja, die Pässe auch, aber vor allem die Kameras.“ – „Wieso die Kameras, was wollen die mit den Fotoapparaten?“ – „Registrieren, die müssen alle registriert werden.“ Angst vor Spionen, der Kriegsgegner ist überall, oder einfach eine Order aus alten Sowjetzeiten – für die Soldaten der Unabhängigen Republik Berg Karabach geht es um eine willkommene Abwechslung im Trott eines seit einem Jahr stagnierenden Krieges. Nach wenigen Minuten im Krisengebiet liegt eine Erkenntnis zum Zustand des umkämpften armenischen Gebiets in Aserbaidschan auf der Hand: Hauptfeind der Grenztruppen des unabhängigen Karabach im früher heftig umkämpften Latschin-Korridor, der Verbindungsstraße nach Armenien, ist derzeit die Langeweile.

Seit einem Jahr wird in Karabach, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr geschossen. Beide Seiten halten sich an die am 9. Mai 1994 vom russischen Verteidigungsminister Gratschow vermittelte Feuerpause. Seitdem verläuft die Front rund 15 Kilometer östlich von Berg Karabach durch die aserbaidschanische Tiefebene in gerader Nord-Süd-Richtung bis zur iranischen Grenze. Aus dem Latschin-Korridor ist durch die armenischen Eroberungen ein kompaktes Gebiet geworden – zwischen Karabach und Armenien gibt es keine Aseris mehr.

Trotz der Ruhe an der Front ist es noch ein weiter Weg zu einer Friedensregelung. Zur Zeit wird in der Minsker Gruppe, einer von der OSZE eingesetzten Verhandlungsrunde, noch darüber diskutiert, wer als Konfliktpartei anerkannt wird. Was sich scheinbar absurd anhört, fokussiert tatsächlich bereits das gesamte Problem. Würde Aserbaidschan die Karabach-Armenier als eigenständige Konfliktpartei anerkennen, akzeptierte die Regierung in Baku Berg Karabach ja bereits als Rechtssubjekt und würde nach seinem Verständnis den Seperatismusbestrebungen der Karabacher nur Vorschub leisten. Andererseits geht über die Köpfe der Karabacher hinweg in dem Konflikt gar nichts – auch die armenische Regierung könnte die Truppe aus Stepanakert nicht gegen ihren Willen zu einer Waffenstillstandsregelung zwingen.

Sowohl Bürgerrechtler wie auch Offizielle sehen in Karabach die Aussicht, demnächst zu einem Vertragsabschluß zu kommen, weit skeptischer als in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Karen Ohgandyanian, der die „Helsinki Citizens Assembly“ in Karabach vertritt, die sich durch ihre Kontakte zur Helsinki-Gruppe in Baku beim Austausch von Gefangenen verdient gemacht hat, ist sehr pessimistisch. „Aserbaidschan ist an einer politischen Lösung nicht interessiert. Sobald sie sich militärisch erholt haben, werden sie wieder angreifen.“ Der Außenminister der selbsternannten Republik Berg Karabach, Arkadij Ghukasjan, bestätigt die Einschätzung des Bürgerrechtlers. „Die Aseris sind dabei, ihre Truppenverbände an der Front wieder aufzufüllen. Nach den Parlamentswahlen im Herbst rechnen wir mit einem neuen Angriff.“

Der äußere Anschein in Stepanakert, der Hauptstadt der Republik, spricht allerdings gegen die Erwartung eines neuerlichen Kriegsausbruchs. Die Stadt befindet sich im forcierten Wiederaufbau, statt Panzern dominieren Baukräne das Zentrum. Offensichtlich bemühen sich die Karabach-Armenier darum, nicht nur militärisch, sondern auch mit dem Wiederaufbau Fakten zu schaffen, die bei späteren Verhandlungen ihre Position unterstützen. Exemplarisch dafür stehen die beiden Städte Stepanakert und Suchi. Suchi war bis zur Eroberung durch die Armenier 1992 der Verwaltungssitz Karabachs und hauptsächlich von Aseris bewohnt. Stepanakert ist die historische Hauptstadt des armenischen Karabach und war auch unter aserischer Verwaltung immer armenisch dominiert.

Vor zwei Jahren waren beide Orte vom Krieg schwer gezeichnet, heute vermittelt Stepanakert einen Eindruck von Prosperität, wogegen Suchi einer Geisterstadt gleicht. Die im Krieg beschädigten Häuser wurden nach der Eroberung vollends zerstört, große Sowjetwohnblocks ragen als rauchgeschwärzte Klötze aus einer Ruinenlandschaft. Die wenigen, jetzt von Armeniern bewohnten Häuser verstärken eher den Eindruck, daß die Stadt tot ist. Die Menschen wirken wie Fremdkörper.

Ganz anders in Stepanakert. Obwohl es aufgrund des Energiemangels nachts immer noch keinerlei Straßenbeleuchtung gibt, haben kleine Verkaufsstände bis Mitternacht geöffnet, herrscht selbst abends noch Leben auf den Straßen. Die auffallendsten Kriegsschäden sind bereits beseitigt, nur ganz vereinzelt erinnern Ruinen an den Dauerbeschuß der Stadt vor drei Jahren. Auch der Lebensmittelmarkt bietet wieder prall gefüllte Stände – die extreme Mangelsituation während des Krieges ist längst überwunden.

Bei den Gesprächen um eine politische Lösung des Konflikts fordert die aserbaidschanische Regierung in Baku zwar auch die Rückgabe Suchis und die Wiederansiedlung der vertriebenen Aseris in der Stadt. Als einen ersten Schritt verlangen Parlament und Regierung Aserbaidschans jedoch die Rückgabe der außerhalb von Karabach liegenden besetzten aserbaidschanischen Gebiete. Ganz oben auf der Liste der Aseris stehen dabei die beiden Städte Agdam und Fisuli. Agdam liegt östlich, Fisuli südlich der Grenzen des eigentlichen Berg Karabach. Die Hauptstraße von Stepanakert in den Süden von Berg Karabach führt über Agdam. Für AusländerInnen ist die Durchfahrt eigentlich verboten. Im nachhinein ist klar, warum: Agdam bietet keinen Anblick, den man Besuchern gerne vorführt.

Doch die Kontrollen in Karabach sind nach einem Jahr Feuerpause lax. Auf dem Weg nach Süden tritt der Fahrer plötzlich auf die Bremse und zeigt nach vorn: „Agdam.“ Er hat einfach die bessere Straße genommen – Militär ist weit und breit nicht in Sicht. Agdam ist eine komplett zerstörte Stadt. Die früheren aserbaidschanischen Bewohner wurden mit der Eroberung vertrieben, sämtliche Häuser, die nach den Kämpfen noch standen, später geschleift. Die gut 50.000 Menschen, die vor dem Krieg hier gelebt haben, würden bei einer Rückkehr Mühe haben, die Ruine zu finden, die früher einmal ihr Haus war. Die Stadt ist ein beredtes Beispiel für die wechselseitige Vertreibungspolitik und die Verbissenheit, mit der der Kampf um den relativ kleinen Flecken Berg Karabach, in dem zur Zeit rund 120.000 Armenier leben, geführt wird. In Agdam, soviel ist auf den ersten Blick erkennbar, wird keine politische Lösung vorbereitet.

Die Front liegt ungefähr zehn Kilometer östlich von Agdam, also Richtung Baku und wird nach Auskunft armenischer Soldaten zur Zeit weiter befestigt. Den Eindruck, daß die Karabach-Armenier dabei sind, sich im Status quo einzurichten, bestätigt Außenminister Ghukasjan indirekt. „Der derzeitige Frontverlauf“, meint Ghukasjan, „ist für uns optimal.“ Ohne Sicherheitsgarantien und Ansätze zu einer späteren Anerkennung der Selbstverwaltung „werden wir uns aus den besetzten Gebieten nicht zurückziehen“. Ghukasjan gibt sich selbstbewußt und scheint sich der Rückendeckung aus Moskau ziemlich sicher. Kompromisse wollen die Karabacher nur auf formaler Ebene, nicht aber in tatsächlicher Hinsicht machen. „Formal kann die territoriale Einheit Aserbaidschans ruhig weiterhin bestehen, die Aufgabe unserer Selbstverwaltung steht aber nicht zur Debatte.“

In der spannendsten Frage, die derzeit in der Region verhandelt wird, schweigt sich Ghukasjan allerdings aus. Seit in Baku im letzten Sommer ein großer Ölfördervertrag zwischen einem westlichen, amerikanisch geführten Ölkonsortium und der Regierung von Aserbaidschan abgeschlossen wurde, diskutieren die Regierungen in Baku, Washington, Moskau und neuerdings auch Jerewan über eine Pipeline, die das kaspische Öl an die Weltmeere anschließt. Während Rußland versucht, die Nutzung einer eigenen, durch Tschetschenien ans Schwarze Meer führenden Pipline durchzusetzen, wollen die USA sich nicht von Moskau abhängig machen. Hinter den Kulissen macht Washington deshalb Druck, die Pipeline von Aserbaidschan durch Armenien in die Türkei zu legen. Ein verlockendes Szenario für Armenien – 400 Millionen Dollar Transitgebühren im Jahr und die Aufhebung der Blockade durch Aserbaidschan und die Türkei. Die Regierung in Jerewan wäre ihre größten Sorgen los. Außer an den Russen hängt der ganze Deal an Karabach. Die Pipeline würde durch jetzt von Karabach-Armeniern besetztes Gebiet führen müssen, was von Aserbaidschan nicht akzeptiert wird. „Ja“, sagt Ghukasjan, „wenn Baku uns anerkennt, ziehen wir uns aus dem Gebiet zurück.“

Von Agdam aus führt der Weg durch eine der schönsten Landschaften, die Karabach zu bieten hat. Grüne Täler, eine Mischung aus Voralpen und Mittelmeer. Die Bezirkshauptstadt dieser südlichen Ecke Karabachs ist Martuni. Ein verschlafenes Nest, das nur aus einem Grund wirklich bemerkenswert ist. Martuni war die Stadt Monte Melkonians. Auf dem Rathausplatz steht ein Denkmal dieser schillerndsten Legende des Krieges um Karabach. Monte Melkonian hätte zum Ché Guevara der Armenier werden können, wäre er nicht schon im Frühjahr 1993 getötet worden. Der spätere Kommandant der armenischen Südfront in Karabach war ein Kind der armenischen Diaspora in den USA. Aufgewachsen in San Francisco, verließ er die USA schon früh und hielt sich seitdem hauptsächlich im Nahen Osten auf. Melkonian wurde zum führenden linken Kopf der Asala, die er als armenisches Äquivalent zur Palästinensischen Befreiungsfront PLO verstand. Zusammen mit den revolutionären Kräften der Türkei wollte er das Militärregime in Ankara stürzen, organisierte Angriffe auf türkische Botschaften und kämpfte mit der Fatah von PLO-Chef Jassir Arafat gegen die isrealische Besatzung des Libanon.

Melkonian saß in Frankreich für Jahre im Gefängnis, wurde im Libanon gejagt und tauchte in Armenien, im Krieg um Karabach, wieder auf. Dort wurde er zu einem der populärsten Kommandanten, der sich auch nicht scheute, gegen Mafiosi und sonstige Kriegsgewinnler vorzugehen. Bis heute halten sich die Gerüchte, er sei von armenischen Kriminellen in eine Falle gelockt worden, wo ihn die Aseris dann erschossen.

Von der Aufbruchstimmung, die Melkonian in Martuni einmal verbreitet haben soll, ist heute nichts mehr zu spüren. Einige junge Männer, die vor dem Rathaus herumstehen, sind erst kürzlich von der nahen Front zurückgekommen. Sie kennen in ihrem bewußten Leben nur den Krieg. Der Kampf um Karabach begann 1988. Die sieben Jahren sind an den Gesichtern der Menschen nicht spurlos vorübergegangen. Sie wirken vollkommen erschöpft. „Die Leute sind müde. Kriegsmüde und politikmüde“, meint später eine Journalistin in Jerewan. Diese Müdigkeit in den Gesichtern, sowohl in Karabach und Jerewan als auch in Baku, ist der beste Hinweis auf bleibende Ruhe an der Front.

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