: „Jeder Getötete ein Räuber weniger“
In Berlin werden kleine vietnamesische Zigarettenhändler von Landsleuten brutal erpreßt / Mordserie unter konkurrierenden Banden forderte allein in diesem Jahr schon neun Opfer ■ Aus Berlin Vera Gaserow
Mehr als zehn Schüsse hallten am ersten Sonntag im Mai über den Hof des Wohnheimes in der Berliner Rhinstraße. Zwei Männer starben, einer wurde schwer verletzt. Die Toten sind die Opfer Nummer acht und neun einer blutigen Mordserie in diesem Jahr. Vietnamesen in Berlin, liquidiert offenbar von eigenen Landsleuten. Seitdem haben Politiker und Medien ein neues Feindbild geschaffen: die vietnamesische Zigarettenmafia, undurchschaubar, unberechenbar und ungeheuer brutal.
Zigarettenmafia – allein über diesen Begriff schüttelt Nguyen schon den Kopf, und Nguyen müßte es wissen. Er gehört zu denen, die mehrmals die Woche an einem festen Ort auf Berlins Straßen ihre unverzollten Zigaretten anpreisen. „Das ist keine Mafia. Dazu fehlt ihnen die Struktur. Eine Mafia durchdringt verschiedene gesellschaftliche Bereiche. Die hier aber sind einfach nur Räuber.“ Die Vietnamesen, die in den letzten Wochen erschossen wurden, gehörten dazu. Nguyen und seine Landsleute kennen die Ermordeten. Ihr Mitleid für die Opfer hält sich – gelinde gesagt – in Grenzen. Eher schadenfroh beobachten sie, „wie die sich gegenseitig umbringen“. Jeder Erschossene „ist ein Räuber weniger“.
Die „Räuber“ haben bekannte Gesichter. Einige kennt man aus den Wohnheimen. Sie sind stillschweigend, aus Angst geduldete Zimmernachbarn auf dem Flur. Doch die meisten wohnen außerhalb der Heime. Denen begegnet man nur bei ihren routinierten, fast wortlosen Auftritten auf der Straße. Einmal im Monat fahren sie an den Stellplätzen der Zigarettenverkäufer vor und kassieren ab: nicht für die Zigaretten, die kommen aus anderen Quellen. Sie kassieren allein dafür, daß die Händler dort stehen, wo sie stehen.
Jeder dieser Verkaufsplätze hat seinen Preis, und der ist intern bekannt, je nach Lage, Kundschaft und Entdeckungsrisiko. Als besonders lukrativ gelten der Bezirk Pankow und die Stellplätze in S- Bahnhof-Nähe. Auf 100 Mark Tagesverdienst kann da ein Zigarettenverkäufer mit seiner stangenverpackten Ware kommen. Drei bis sechs Mark bleiben dem Verkäufer pro Stange – je nachdem wie gut man zuvor mit denen verhandeln konnte, die die unverzollte Ware heranschaffen: heimlich aus Polen über die Grenze geschmuggelt oder mit fingierten Papieren LKW-weise aus einem europäischen Freihafen gelotst. Sind gerade viele Zigaretten auf dem Markt und viele Polizisten auf Streife, läßt sich der Preis der Zulieferer drücken.
Für jeden Stellplatz ist ein monatlicher Tribut fällig
Ein Verkäufer wie Nguyen rechnet mit einem Tagesverdienst von 50 Mark. Davon verlangen die „Räuber“ ihren Anteil: 200 Mark sind Nguyens monatlicher Tribut. Andere zahlen mehr. Rund 30.000 Mark, so schätzen Vietnamesen, kassieren die Banden jeden Monat allein in Pankow ab. Für den Fall, daß Nguyen und seine Landsleute nicht zahlen, hat man ihnen angekündigt, was passiert: „Dann stehst du morgen nicht mehr hier.“ Bisher ist kein Fall bekannt, daß auch die kleinen Händler Opfer der physischen Gewalt der räuberischen Banden geworden sind. Allein deren verbale Drohung reicht – und alle zahlen.
Für die Banden ein lukratives Geschäft, das heftig umkämpft ist. Insider beobachten unterschiedliche Phasen in diesem Kampf. In den ersten Jahren nach der Wende, als etliche der früheren vietnamesischen Vertragsarbeiter die ihnen in Deutschland verbleibende Zeit zum schnellen Verdienst mit unverzollten Zigaretten nutzten, sei alles fest in einer Hand gewesen. Eine Bande aus Nordvietnam sicherte sich mit ungeheurer Brutalität das Monopol aufs Abkassieren. Als Gegenwehr bildete sich eine zweite Gruppe, eine Bande aus Mittelvietnam, der es gelang, die Macht des Konkurrenten zu brechen. Eine Weile herrschte Ruhe, bis im vergangenen Sommer der Chef der mittelvietnamesischen Gruppe ermordet wurde und die Bande zerfiel. Seitdem tobt der Krieg unter sechs bis sieben Gruppen, die jeweils aus fünf bis zehn Mitgliedern bestehen.
Rund 20 Hinweise auf die Täter registrierte die Berliner Polizei nach den jüngsten Morden in der Rhinstraße. Ein eigens geschalteter Anrufbeantworter in vietnamesischer Sprache soll die Schwelle für anonyme Hinweisgeber senken. Zur Polizei gehen, ihnen die Namen nennen, die man doch kennt? Nguyen schüttelt den Kopf.
Die Mehrheit der Vietnamesen beobachtet die brutalen Revierkämpfe der Banden eher mit Desinteresse. Denen, die ihre Zigaretten anpreisen, ist egal, an wen sie Tribut zahlen müssen. Was sie eher trifft, ist das Image von brutalen Killertypen, das jetzt auch auf sie übertragen wird: jeder Vietnamese ein Zigarettenverkäufer, und die Verkäufer die „Zigaretten-Mafia“. Einmal zu Kriminellen abgestempelt, drohen die Vietnamesen so auch zum Freiwild zu werden von ausländerfeindlichen Übergriffen.
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