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Und Ostfriesen singen doch

Kolossales Standing der berufstätigen Einheimischen zwischen Stadtsparkasse, Deich und Volkshochschule: Das 6. Emder Filmfest bot in einer Woche 81 Filme: 200 Kilometer Bilder. Eindrücke von einer sentimentalen Reise  ■ Von Helmut Höge

Komisch, auf Kunst- und Kulturveranstaltungen sieht man immer besonders viele schöne Frauen. Da schwingt noch mit, was bereits Herodot und Levi-Strauss bemerkten: Geschichte beginnt stets mit einem Frauenraub (zu erinnern sei an das WK-Zwo-Victoryzeichen, aus dem das Playboy- Bunnylogo wurde), und Kultur entsteht über den Austausch von Frauen. Dementsprechend bestand dann auch der einzige heftige Streit auf dem internationalen „Publikumsfest im Nordwesten“ aus einer altbackenen Eifersuchtsszene zwischen zwei süddeutschen Blutjung-Schauspielern. Nicht gerade viel für die angereisten 40 Streitkulturschaffenden aus 41 Film-Ländern. Die Emder Öffentlichkeit, vor 400 Jahren mit einer äußerst militanten Revolution entstanden, liebt es heuer jedoch eher harmonisch. Auf einem der „Mitternachtstalks“ im zentral gelegenen Café am Stadtgarten wurde es plötzlich für zwei Minuten etwas kritisch, weil die Kamerafrau des DFFB-SFB-Films über die Karriereskrupel Berliner WG- Freiberufler „Glück Wünsche“, Gruscha Rode, dem Hauptdarsteller der Münchner Yuppie-Klamotte „Japaner sind die besseren Liebhaber“, Thomas Heinze, üblen „Rassismus“ vorwarf: nachdem dieser allen Ernstes erklärt hatte, daß die deutschen Männer die besseren Liebhaber seien – „in Wirklichkeit“. Die Emder Zeitung berichtete anderntags vierspaltig über diese „gereizte Stimmung“: „Manche Zuschauer waren von dem Schaukampf peinlich berührt.“ Desungeachtet scheint die Mehrheit der Filminteressierten in der seit ewigen Zeiten sozialdemokratisch regierten Arbeiterstadt Emden gerade das politisch korrekte Kino zu bevorzugen – und lehnt deswegen z.B. die ästhetische Verherrlichung von Anarchisten, Arbeitslosen und Animierdamen eher ab. Die von mir favorisierte Fein-Komödie über die Karriere eines Hellersdorfer Abiturienten mit Astronomie-Ambitionen (Fabian Busch) als Schlafwagenschaffner bei der Bundesbahn: „Unter der Milchstraße“ (von M. X. Oberg), wird vom lokalen Festival-Kritiker zum Beispiel als „Verfilmung eines absoluten Alptraums“ bezeichnet, in dem der Hauptdarsteller „in einen Strudel von zwielichtigen Nachtbars, Drogen, Kriminalität und menschlicher Kälte gerät“. Das ist vielleicht nicht falsch, aber so kann ich den in Vilnius billig produzierten Film, mit Detlev Buck in einer Nebenrolle, überhaupt nicht sehen.

Der mit 15.000 Mark dotierte „Preis des Emder Filmpublikums“, ein vom Emder Spaß-Philosophen Otto Waalkes entworfener Keramik-„Ottifant“, wurde dann von Bernhard Wicki an den Regisseur des Gaukler-Films „Funny Bones“ übergeben. Es geht in dieser vom Amüsier-Konzern Walt Disney mit 9 Millionen Dollar finanzierten „kinematographischen Höchstleistung“ (Holighaus) um die verschlungene Versöhnung der guten aber bösen englischen Workingclass-Komik mit dem schlechten aber lernfähigen US-Entertainment – im Arbeiter- Vergnügungsort Blackpool, wo der Regisseur Peter Chelsom aufwuchs: Wieder der Hang zur Harmonie, verbunden mit einer romantisch-herben Atmosphäre. In seiner ostfriesischsten Variante kehrte diese Atmo im Kurzfilm der Bremer Regisseurin Catharina Hübner „Zwischen Grün und Blau“ wieder. Der Film spielt in Pewsum bei Emden um die Jahrhundertwende: Eine junge Frau, Edda, interessiert sich hingebungsvoll für Medizin, als „nervenkrank“ sperrt man sie schließlich in eine Dachkammer, wo sie weiter studiert („meine Bücher geben mir neue Kraft“), gelegentlich kümmert sich ihre Schwester um sie.

Der Film erinnerte mich an eine These des Wahlbremerhaveners Burkhard Scherer, wonach die Ostfriesen bei psychischen Problemen weder – wie Münchner Scene- Schauspieler – effektvoll teures Geschirr zerdeppern, noch – wie Wiener Fin-de-siècle-Frauen – sich lärmend auf der Couch produzieren. Im Nordwesten geht man statt dessen bei Sturm auf den Deich und schaut schweigend übers Meer: „Wo blanker Hans war, soll Ich werden!“ Oder: „Wer nicht will deichen, soll weichen!“ wie die Ostfriesen sagen, deren wesentlichste Kulturleistung in der Landgewinnung liegt – im Deichbau. Roland Barthes bezeichnete das Kino einmal als „die Couch der Armen“. Dazu will nun gar nicht die Tatsache passen, daß der Filmklub in der streng calvinistisch geprägten 50.000-Einwohner-Stadt Emden 2.500 Mitglieder hat. Von diesem Verein ging 1989 auch das Filmfest aus, das dann die Emder Volkshochschule organisatorisch in Angriff nahm, mit Mitteln der Stadt, des Landes, einer Stiftung der „Ostfriesischen Landschaft“ und einer Reihe städtischer Unternehmen als Sponsoren. Nahezu jedes zweite Geschäft in einer der vielen Fußgängerzonen hat das Schaufenster filmfestmäßig dekoriert. Über 10.000 Besucher zählten diesmal die drei Kinos, von denen zwei die VHS betreibt.

Trotzdem läßt sich der Scherersche Gedanke halten, denn als Motiv für das Plakat, den Katalog und den Trailer des Filmfests stellte man als Silhouette stilsicher 22 Cineasten auf einen Deich – neben den Pilsumer Leuchtturm, in dem Otto Waalkes den Leuchtturmwärter, für seinen Film „Otto – der Außerfriesische“, spielte. Außerdem geht schon die Idee eines Publikumsfestivals genaugenommen auf den (theweleitschen) Deichrichter Freerksen zurück: Dieser begründete 1873 in den Ostfriesischen Monatsblättern das „gedeihliche Zusammenwirken“ von Bürgertum und Arbeiterklasse durch eine Art VHS-Impuls – damals freilich noch, um die revolutionäre Sozialdemokratie in Emden nicht hochkommen zu lassen: Die „ehrenhaften Persönlichkeiten, besonders in den niederen Volksclassen, können keinen Einfluß gewinnen, wenn sie nicht an die besser situierten Classen einigen Anschluß und von diesen Unterstützung erlangen“. Dazu wurden sogar Bekleidungsvorschläge für Besuche in Arbeiterhaushalten gegeben. Erfolgreichster Exekutor dieses praktischen auf die Gesamtharmonie gerichteten Calvinismus war dann der Emder Oberbürgermeister Fürbringer, der die revolutionären Arbeiter unterstützte, aber auch bespitzelte, wo er nur konnte, so lange er sie damit von sozialdemokratischen Umtrieben abhalten konnte. Das ging schon damals bis hin zu „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“, wobei jedoch noch ein „Bewußtsein eigener Verschuldung“ bei den betroffenen Arbeitslosen vorausgesetzt wurde. Andererseits gab die 1833 aus Wohltätigkeit und Pädagogik gegründete Stadtsparkasse auch armen Leuten Not-Kredite.

Heute steht vor dem Café am Stadtgarten der „Fürbringer- Brunnen“ und die SPD kommt auf über 60 Prozent, sogar die Grünen haben in Emden mehr Einfluß als die CDU. Es gibt so gut wie kein Graffiti in der Stadt, außer in der Diskothek „Madison“ – als Wanddekoration, und dort nicht einmal eine einzige Klo-Inschrift. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 17 Prozent, zum Teil deswegen, wie bereits Fürbringer, aber auch der heutige Oberbürgermeister Alwin Brinkmann unisono erklären: weil der ostfriesische Arbeiter „an der heimischen Scholle klebt“ – so daß zum Beispiel viele die gerade anstehende Umsetzung von 500 Arbeitsplätzen bei VW, vom Passat- Leitwerk Emden nach Hannover, nicht mitmachen. Zu Fürbringers Zeiten wurde die Verbesserung der Arbeiterexistenzen noch durch fortwährende „neue Einpolderungen“, das heißt Eindeichungen, mit denen die Pachtländereien vermehrt wurden, erreicht. Heute bewirken die vor allen Toren der Stadt entstandenen Möbel- und Heimwerkermärkte ähnliches, einige befinden sich im übrigen auf und am „Kaiser-Wilhelm-Polder“, einem neuen Gewerbegebiet, das am „Tag der offenen Tür“ ebenfalls 10.000 Leute besuchten: „Der Ostfriese krallt sich heute in den Teppichboden und in seine Schrankwand,“ so sagt es einer der Filmfest-Macher. Ein Gymnasiallehrer erzählt, daß jetzt auch die 68er in seinem Kollegium mehr und mehr dazu neigen, mit ihrem „Niveau“ runterzugehen und sich dafür dem Hausbau und dem Windsurfen zu widmen. Dafür gibt es keine Sammelunterkünfte für Rußlanddeutsche oder Asylbewerber: sie sind fast alle in normalen Wohnungen untergebracht. Vor zwei Jahren hatte die Stadt noch einige Millionen auf ihren Konten – dann wälzte „Bonn“ aber die Soziallasten auf die Kommunen ab, so daß OB Brinkmann demnächst „wohl auch vermehrt auf ABM zurückgreifen muß“. Den Filmpreis sponsort neben VW die Stadtsparkasse. Auch der örtliche Buchhändler Lübben gibt noch was dazu. Mit einem Teil seines 60-Mitarbeiter-„Teams“ beteiligte er sich an der großen Preisverleihungsparty, die im Restaurant Saray stattfand, das einem Türken aus Celle gehört: Um das Bedienen zu forcieren, übernahmen Lübbens Azubis wie selbstverständlich das Kellnern, seine Geschäftsführerin stellte sich an den Zapfhahn, und schließlich heizte sein Filialleiter die Stimmung noch mit einem Bauchtanz auf den Tischen an. Das beeindruckte uns derart, daß wir diese Episode seitdem in Berlin immer zuerst zum Besten geben.

Auch der Oberbürgermeister, Alwin Brinkmann, lud zu einer Party ein – in den „Friesenhof“, wo er seine Rede mit den Worten beendete: „Im übrigen halten wir es hier in Emden so – für das Wetter ist der Rat verantwortlich, alles andere liegt in der Hand der Institutionen.“ Später erfahre ich von ihm, daß er Arbeiter gewesen ist, „auf der Werft“, und dann drei Jahre „in Deutschland“ tätig war, in Köln, danach sei er wieder nach Ostfriesland zurückgekehrt. Deutschland und Ostfriesland wissen die Emder also bis heute zu unterscheiden.

Als „Hauptkulturträger“ gilt in Emden heute die VHS, sie residiert im größten Gebäudekomplex der Innenstadt. Eine Fußgängerbrücke verbindet ihn neuerdings mit der „Malschule“, an die sich „Dat Nannen Huus“ anschließt. Kunstsammler Henri Nannen, hinter Otto der zweitberühmteste Alleinunterhalter der Stadt, hatte sich die Brücke zu seinem 80. Ge

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burtstag gewünscht – und auch bekommen. Die Festival-Leitung, der stellvertretende VHS-Leiter, Rolf Eckart, und der VHS-Fachbereichsleiter Zweiter Bildungsweg, Thorsten Hecht, konzentrieren sich bei ihrer Auswahl auf Filme aus dem nordwesteuropäischen Raum. Der – quasi politisch doppelt korrekte – Eröffnungsbeitrag „Priest“ von Antonia Bird spielt im Liverpooler Arbeiterviertel, die Hauptrollen teilen sich darin ein schwuler Priester und ein mißbrauchtes Mädchen. Gleichzeitig ist der Film ein Plädoyer für die überwunden geglaubte Labour-Theologie. Ähnlich sauber ist „Mein unbekannter Ehemann“, in dem ein abgelehnter Ghanaischer Asylbewerber zwischen seine Pro- forma-Ehefrau und seine verheiratete Freundin gerät. Alle Mitwirkenden sind grundsympathisch, bis hin zum Defa-Regisseur Andreas Dresen. Der Hauptdarsteller Ade Sapara ist darüberhinaus so gutaussehend, daß eine von ihm besonders beeindruckte VHS-Mitarbeiterin später Billets von Kollegen zugespielt bekommt, die mit Sapara unterschrieben sind. Rundum korrekt kam auch die vom Berlinale-„Forum“ ausgeliehene Moderatorin der täglichen „Mitternachtstalks“, die Burma- Expertin Dorothee Wenner, an: Sie mußte sogar Autogrammwünsche erfüllen. In den Jahren davor hatte man einen Radio-Talker des Ödeldödelsenders ffn dafür engagiert.

In der Reihe friesisch-herb, wie der mit dem Pilsumer Leuchtturm werbende Sponsor Jever-Brauerei das nennt, wäre „Branwen“ von Ceri Sherlock zu nennen: ein Film über den aktuellen irisch-walisischen Kampf gegen England, auf der Basis einer alten walisischen Sage. Der Film fand noch während des Festivals Eingang in den gymnasialen Englischunterricht. Ferner „Words upon the window pane“ von Mary McGuckian – über Séancen und Eifersucht um den irischen Schriftsteller Swift, mit Geraldine Chaplin in einer Hauptrolle, der alle Filme irgendwie gleich schwerwiegend geraten. Das Publikum empfand ihn jedoch zu undurchsichtig. Im Gegensatz zur feministischen englischen Jean-Genet-Verfilmung „Sister my Sister“ von Nancy Meckler, in der es um eine stille Revolte zweier Zofen gegen ihre Herrschaft geht. In einer Werkschau zeigte man Filme von Bill Forsyth. Nicht unbedingt zum nordwesteuropäischen Eingeborenen-Raum gehörten das Maori-Familiendrama „Once were Warriors“ aus Neuseeland und die Zürcher Boheme- Elegie „Jazz“ von Daniel Helfer. Auch das „Prinzenbad“ lag etwas abseits: eine Budapester Edelbad- Oper über männliche Aquaphilie, das aber vor allem dem Bademeister, Bernhard Wicki, geschuldet war, der das Filmfest von Anfang an mit stiller Anwesenheit (er hört immer schlechter) unterstützte.

Abschließend sei noch die These des Regionalforschers Hoefer aus dem Jahr 1881, daß Ostfriesen nicht singen, korrigiert. Anders als die Filmfeste in Husum und Osnabrück etwa, ist das Emder ein Stadtfest und damit in gewisser Weise ein urbaner Ausnahmezustand, in dem das gesellige Beisammensein zum herangeschafften Kulturprogramm gehört. Zu fortgeschrittener Stunde huben jedesmal die Ausländer – natürlich die eingeladenen Iren zuerst, aber dann auch die Münchner, Belgier, Hannoveraner und Schweizer – zu singen an, schließlich sangen alle mit. Aber bereits um 2 Uhr verkündete die Antwerpener Schauspielerin Margot van Doorn: „Belgium is leaving!“ Danach verdrückten sich auch die anderen Mimen langsam. Gegen Morgengrauen feierten fast nur noch die Einheimischen – Buchhändler, Gymnasiallehrer und VHS-Mitarbeiter, die allesamt in der Frühe arbeiten mußten: Ein kolossales Standing! – Das muß man den Ostfriesen lassen. Deswegen wird es dort aller Wahrscheinlichkeit nach das alljährliche „Filmfest“, dem die noch enthemmteren „Emder Matjes-Tage“ folgen, auch dann noch geben, wenn sich die Charlottenburger Promi-„Berlinale“ längst als Brandenburger Torheit herausgestellt hat. „Ostfriesenblout is keene Bottermelk“, wie man da oben zu sagen pflegt.

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