: Freispruch im Sterbehilfeprozeß
■ Künstliche Ernährung sollte gestoppt werden: Kein versuchter Totschlag
Kempten (taz) – Ein Arzt und ein Geschäftsmann sind am Mittwochabend vom Landgericht Kempten vom Vorwurf des versuchten Totschlags freigesprochen worden. Die beiden hatten in einem Pflegeheim eine Anweisung unterschrieben, daß die künstliche Ernährung bei der Mutter des Geschäftsmannes eingestellt werden solle.
In einem früheren Verfahren im vergangenen Jahr waren der heute 54jährige Arzt und der gleichaltrige Geschäftsmann vom Landgericht Kempten zu Geldstrafen in Höhe von 6.400 und 4.800 Mark verurteilt worden. Das Gericht befand die beiden Männer damals des versuchten Totschlags im minder schweren Fall für schuldig. Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe das Urteil aufgehoben hatte, war das Verfahren nun in Kempten bei einer anderen Kammer neu aufgerollt worden.
Die beiden Männer hatten eine Anweisung im Pflegeheim unterschrieben, daß die künstliche Ernährung bei der unheilbar kranken 73jährigen eingestellt werden sollte. Seit die Mutter 1990 einen Herzstillstand und eine schwere Gehirnschädigung erlitten hatte, lag sie im Koma.
Die beiden Beschuldigten waren im ersten Verfahren verurteilt worden, obwohl die Heimleitung der Anweisung nicht folgte und die künstliche Ernährung fortsetzte. Knapp neun Monate später starb die Patientin an einem Lungenödem, ohne vorher noch einmal aus dem Koma zu erwachen.
Das Kemptener Landgericht hatte in der ersten Verhandlungsrunde nach Auffassung des BGH den mutmaßlichen Willen der Patientin nicht überprüft. In der Neuverhandlung wurde jetzt an drei Prozeßtagen genau diese Frage geprüft: Wie hätte die Koma-Patientin entschieden, wenn sie in der Lage gewesen wäre, sich zu artikulieren? Übereinstimmend hatten die Zeugen, überwiegend Verwandte und Bekannte der Familie, bestätigt, daß die Patientin mehrfach gesagt habe, sie wolle nicht an Maschinen hängend dahinsiechen.
Der BGH hatte im Rahmen der Aufhebung des ersten Kemptener Urteils deutlich gemacht, daß bei im Koma liegenden Patienten mit unumkehrbaren Hirnschäden ein Abbruch der Behandlung zulässig sein könne, wenn dies deren tatsächlichem oder mutmaßlichem Willen entspricht.
Beim Freispruch im Neuverfahren warnte der Vorsitzende Richter Ingo Buchelt aber davor, voreilige Schlüsse aus dem Urteil zu ziehen. Ein Grenzfall sei diese Sache gewesen, und objektiv sei sehr wohl der Tatbestand des versuchten Totschlags erfüllt gewesen. Klaus Wittmann
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