Neapolitaner sein in Norditalien

■ Oder die Frage: Ist Neapel nun besonders gut oder besonders schlecht?

Wenn man in Norditalien sagt, man sei aus Neapel, erweckt das nie Gleichgültigkeit. Es ist anders, als zu sagen, man komme aus Bari, aus Potenza, aus Catanzaro, aus Catania. Aus all den Reaktionen, die ich bei der Aussage, Neapolitanerin zu sein, bemerkt habe, zeigt sich, daß „Neapolitaner sein“ stets mit einer besonders empfundenen Wesenheit assoziiert wird.

Ob diese allgemeine Reaktion des Norditalieners Neapolitanern gegenüber von objektiven, wirklichen Tatsachen lebt oder durch eine Reihe von Gemeinplätzen entstanden ist, mag zweitrangig sein; die Existenz dieser Neapel- Wahrnehmung ist zweifellos Tatsache. Wenn man in Norditalien aus Neapel kommt, gibt es also zwei Reaktionen: offene Ablehnung oder Wertschätzung. Beide Reaktionen sind aufgebauscht.

Es ist die zweite, die wertschätzende Reaktion, die mir Schwierigkeiten bereitet. Sicher, die Aussagen über das berühmtermaßen dreckige, chaotische, diebische, unerträgliche Neapel sind nicht falsch. Doch wer nur das Negative festhalten will, der „sieht“ buchstäblich auch nicht das andere, ebenso wirkliche und wahre Neapel. Die wertschätzende und bewundernde Reaktion aber ist (auch wenn sie auf den ersten Blick „verführerisch“ erscheint) auf ihre Weise nicht weniger vorbelastet. Es ist eine häufig unechte Liebeserklärung, die zum „guten“, offenen, modernen Norditaliener gehört.

Neapel wird also in Norditalien im Prinzip durch Etikettierungen, durch positiv-negative Stereotypen wahrgenommen: das vulgäre, leibliche, fleischliche Neapel. Das Neapel der Volkslieder, des Klangs und des Lärms, der nicht beachteten Verkehrsampel. Das Neapel des Meers, der Sonne und der Farben. Das Neapel der Phantasie und der Improvisation, der täglichen, spontanen Erfindungen, Arrangements und Anpassungsfähigkeit. Das Neapel der Spaghetti und der Sfogliatelle, der Pizza und des Kaffees. Das Neapel der Schlauheit und der Hinterlistigkeit, der Camorra, der Droge, des Handtaschenwegreißens. Das Neapel von Fußball und Maradona. Das Neapel der Gassen, der „Bassi“, der Spanischen Viertel und der Röhren der Nacherdbebenzeit 1980. Das Neapel der Via Petrarca, Via Posillipo und der anderen „höheren“, panoramischen Gegenden. Das Neapel der sechzig kleinen und großen Verlage, des intensiven kulturellen Lebens und der Analphabetismusraten. Das Neapel der illegalen Parkwächter.

Alle Wahrnehmungen werden systematisch verteilt auf den positiven und negativen Pol der Voreingenommenheit... Aber Neapel ist all das zusammen und vereinigt in sich all das gleichzeitig. Selten jedoch finden sich beide Wahrnehmungen und Urteilspole gleichzeitig in einer Person. Der illegale Parkwächter kann als Beispiel von unerträglicher Gaunerei gesehen werden; dann heißt es: Beweis der Nichtzivilisation der Neapolitaner, Neapel = nördlichste Stadt Afrikas. Oder derselbe Parkwächter als Beispiel der scheinbar grenzenlosen Fähigkeit der Neapolitaner, täglich Lösungen zu erfinden, um in der Not und Armut zu überleben; dann heißt es: Beweis der unerschöpflichen „seliggesprochenen“ Phantasie und des Geistesreichtums der Neapolitaner.

Auch dem berühmten neapolitanischen Schauspieler Totò wurde diese Haltung der Ablehnung oder Bewunderung nicht erspart: entweder verehrt als Vertreter der Intelligenz und der natürlichen Komik oder geschmäht als Modell jener Durchtriebenheit und Verschlagenheit eines angeblichen neapolitanischen „Nationalcharakters“. Und wenige entsinnen sich dabei, daß das neapolitanische Verbrechertum kein genetisches Gesetz ist, sondern das Ergebnis eines dem ganzen Süden gemeinsamen tatsächlichen Zustandes der wirtschaftlichen Rückständigkeit und des sozialen Elends.

Neapel ist tatsächlich eine zusammengewürfelte Gesamtheit von abstoßend und anziehend wirksamen Erscheinungen (möglicherweise schroffer und deshalb augenscheinlicher zusammengepreßt als anderswo). Deshalb erweckt es nie Gleichgültigkeit, sondern erscheint oft als ein Wunder, „Wunder“ in der nunmehr vergessenen ursprünglichen Bedeutung von „wundersam“, das heißt „seltsam“, „außerhalb der Norm, der Ordnung, der Regelmäßigkeit“ sein, das ist es wohl, was aus dieser Stadt etwas macht, das auffällt – im „Guten“ und im „Bösen“.

In seiner Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart, in seiner Übermäßigkeit von Widersprüchen und Gegensätzen ist Neapel die Stadt der Ungleichzeitigkeiten. Denn die Unterwerfung unter das Gesetz der Gleichmachung der westlichen Gesellschaften, mit ihrem nach exklusiv betriebswirtschaftlichen Regeln funktionierenden Standort-Ideal und dem dazugehörigen Regel- und Gesetzeswerk, scheint in einer Stadt wie Neapel noch Widerstand zu finden. Kein Zufall, daß Pasolini die Neapolitaner so sehr schätzte, die wegen objektiver, äußerer Umstände und nicht wegen besonderer innerlicher, angeborener Kräfte nicht zu den „fortgeschrittenen“ Kindern der modernen Zeit geworden sind. Die sichtbare, wahrnehmbare, fühlbare (und fahle) Homogenität in den meisten norditalienischen Städten, diese widerspruchslose und unwidersprochene Unterwerfung unter das Gesetz des sogenannten „Wohlstandes“ hat in Neapel noch nicht ihr Zuhause. Margherita Roman