: Algeriens zweite Revolution
Heute will der IWF mit Algerien ein umfassendes Reformprogramm vereinbaren und die algerische Nomenklatura in neue Zeiten hinüberretten / Erfolgreich hatte die Regierung den islamistischen Teufel an die Wand gemalt ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) – Algeriens Hotels hatten früher einen miserablen Ruf. Wo nicht halbgeschulte Kriegsveteranen einen die niedrigen Zimmerpreise vollkommen rechtfertigenden Minimalservice boten, verzweifelten unerfahrene Jungbeamte an ihren heruntergekommenen Betonklötzen, in denen nur Staub und Kakerlaken im Überfluß vorhanden waren. Nun soll all das anders werden. Fünf größere Hotels gehören zu den ersten staatlichen Objekten, für die Algeriens Regierung nach dem für heute erwarteten Abschluß eines Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Käufer sucht.
Algeriens Ökonomie hat frischen Wind bitter nötig. Bis ins Alltagsleben der Bürger hinein reichen die Konsequenzen chronischer Importabhängigkeit, Devisenknappheit und parasitärer Kontrolle durch korrupte Staatsdiener. Der blutige Kampf zwischen Militärregime und militanten Islamisten, der in drei Jahren 40.000 Tote gefordert hat, findet in der dadurch verursachten Unzufriedenheit seine Wurzeln.
In den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit galt der Maghreb- Staat noch als entwicklungspolitisches Musterland. Das im Überfluß vorhandene Erdöl ermöglichte der per Einparteiendiktatur regierenden „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN) ein ehrgeiziges Industrialisierungsprogramm. Es sollte nicht nur eine in Afrika beispiellose industrielle Basis geschaffen werden, um Algerien den Sprung in die Erste Welt zu erlauben. Auch die Bevölkerung sollte durch den Aufbau eines Massenschulsystems aus ihrer Unterentwicklung herausgehoben werden.
Das Ergebnis war ganz anders. Es entstand eine Zuteilungswirtschaft: Investitionen, Außenhandel, Produktion, Vermarktung einheimischer Güter, Erwerb vieler staatlicher Produkte, von Wohnungen bis zu Telefonen: alles war von behördlichen Genehmigungen abhängig. Ein gigantischer, von niemandem kontrollierter Staatsapparat lebte davon, Lizenzen und Genehmigungen zu verkaufen – und die Einnahmen davon nach Belieben auf die Seite zu schaffen. „Sobald die Organisation des Handels zentralisiert wird, so daß Beamte die Kompetenz erhalten, Märkte zu vergeben und ein Produkt anstelle eines anderen zu kaufen, öffnet man dem Mißbrauch Tür und Tor“, analysiert der algerische Ökonom Smail Goumeziane. Von einer „byzantinischen Bürokratie“ und „verallgemeinertem Nichtstun“ spricht der britische Politologe John Howe.
Algerische Oppositionelle schätzten die Summe der bis Anfang der 90er Jahren beiseite geschafften Gelder auf 26 Milliarden Dollar – soviel wie die gesamte algerische Auslandsschuld. Und all dies geschah, während sich die Bevölkerung in dreißig Jahren von neun auf 27 Millionen Menschen verdreifachte, viel zu wenig Wohnungen gebaut wurden und die Landwirtschaft unterentwickelt blieb. Algerien wurde ein Land mit einem unterbeschäftigten, nur mit Korruption und Knappheit vertrauten Stadtproletariat, das die Parolen der Regierenden über Modernisierung nur als Hohn empfand.
Das war die Saat des Jugendaufstands vom Oktober 1988, der darauffolgenden Demokratiebewegung wie auch der islamistischen Kulturrevolte, die die Fabriken und Schulen des Staates zu ihren Feinden erklärte. Die an ihren Sesseln klebende algerische Nomenklatura hat es seither nicht geschafft, das Blatt zu wenden. Die Liberalisierungsmaßnahmen nach 1988 blieben halbherzig; viele wurden gar nach der Wahlannullierung und der Einsetzung einer Militärjunta Anfang 1992 wieder rückgängig gemacht. Heute liegt die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent – 60 Prozent gar unter der Jugend. Während die Öl- und Gasexporte im Sinken begriffen sind und gerade für den Schuldendienst von etwa acht Milliarden Dollar pro Jahr reichen, müssen Importe in Höhe von elf Milliarden Dollar jährlich – zum großen Teil Lebensmittel und andere Konsumgüter – finanziert werden, und das bei einer Landeswährung, die allein 1994 Abwertungen von insgesamt 80 Prozent erlitt.
Algeriens Opposition ist sich einig darin, daß eine radikale Dosis Marktwirtschaft nötig ist. Denn der Öl- und Gasreichtum ist im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern groß. „Trotz der enormen Verschwendung leidet Algerien mehr an bewußter Blockade als an fehlenden Mitteln“, heißt es im Sant'Egidio- Papier der algerischen politischen Parteien von Januar 1995. „Das wahre Problem Algeriens liegt nicht in seinem finanziellen Ungleichgewicht, sondern in dem Verfall und der fehlenden Produktivität, die sowohl die Industrie wie auch die Landwirtschaft charakterisieren“, schrieb eine Gruppe renommierter algerischer Ökonomen im Herbst 1993 in einem Strategiepapier „Algérie 2005“ und wies auch gleich auf den Grund hin, warum Wirtschaftsreformen schwer durchzusetzen seien: „Die Privatisierung öffentlicher Güter würde Privilegien in Frage stellen, von denen die alten Machthaber profitieren; man würde dadurch den vielen Rentiers des Staatssektors den Ast absägen, auf dem sie gesessen haben.“
Bis vor kurzem beschränkte sich die herrschende Militärjunta darauf, das Heil in immer neuen Umschuldungen zu suchen. In Verhandlungen mit Gläubigern malte der algerische Staat den islamistischen Teufel an die Wand und erhielt meistens äußerst großzügige Bedingungen. So schloß der „Pariser Klub“ der Gläubigerländer am 1. Juni 1994 mit Algerien ein Abkommen zur Umschuldung von fünf Milliarden Dollar, die sonst bis Mai 1995 fällig gewesen wären – nun müssen die Rückzahlungen dieser Gelder erst 1998 beginnen. Außenminister Mohammed Salah Dembri hatte zuvor offen um eine „politische Behandlung“ des Schuldenproblems gebeten. Der Internationale Währungsfonds (IWF) bewilligte am 1. April 1994 eine Finanzspritze von einer Milliarde Dollar. Zuletzt schuldeten die privaten Gläubiger – ein im „Londoner Klub“ zusammengeschlossenes Bankenkonsortium unter französischer Führung – am 12. Mai 1995 3,2 Milliarden Dollar auf bis zu sechzehn Jahre um.
Die ausländische Großzügigkeit wurde erkauft mit Reformversprechen. Die erste IWF-Hilfe von 1994 war verknüpft mit einer vierzigprozentige Abwertung der algerischen Währung und dem Versprechen, das staatliche Komitee zur Vergabe von Importlizenzen aufzulösen. Und daß die Umschuldungsabkommen immer wieder das Jahr 1998 als erstes Zahlungsjahr nennen, war nur möglich, weil Algerien sich zu Verhandlungen mit dem IWF über ein weitreichendes dreijähriges Reformprogramm bereit erklärt hatte, das in einer Laufzeit von 1995 bis 1998 die algerischen Verkrustungen aufbrechen soll. Um die formale Unterzeichnung dieses Programms geht es bei den heutigen Gesprächen.
Die Grundlagen des Programms sind klar: Handelsliberalisierung, Privatisierung, Subventionsabbau. Im einzelnen sollen – so heißt es in einem im vergangenen März dem IWF überreichten Entwurf – Staatsbetriebe ab 1996 keine Subventionen mehr erhalten. Die Handelsliberalisierung begann bereits 1994 mit der Abschaffung des Importlizenzkomitees. Die Einzelheiten der Privatisierung wurden am 4. Mai nach Verhandlungen zwischen Regierung und dem Gewerkschaftsbund UGTA präsentiert: Zu hundert Prozent abgestoßen werden sollen Hotels, Bau- und Transportfirmen; an Stahl-, Metall- und Textilunternehmen wird der Staat Anteile behalten; „strategische“ – und kriegswichtige – Sektoren wie Wasser, Energie und die Eisenbahn bleiben ganz in staatlicher Hand. Dreißig Prozent der Privatisierungsaktien werden jeweils der Belegschaft des betroffenen Betriebes reserviert.
Im Gegenzug wird der IWF Algerien mit Krediten von jährlich 500 Millionen Dollar zur Seite stehen, und andere Körperschaften wie die Weltbank werden auch ihre Schatullen öffnen. So will die Europäische Investitionsbank den Bau einer neuen Gaspipeline nach Spanien und die Verdoppelung der existierenden Pipelines nach Italien finanzieren. Die Europäische Kommission gab darüber hinaus am vergangenen Montag die erste Hälfte einer bereits im Dezember bewilligten Algerien-Hilfe von 200 Millionen Dollar frei.
Ist eine Reform der Nomenklatura-Wirtschaft also doch möglich? Ganz so ist es nicht; die Regierung stellt sich nicht gegen die „Rentiers des Staatssektors“, zu denen ihre Mitglieder ja zum Teil selber gehören, sondern ermöglicht ihnen den gleitenden Übergang vom morschen Baum des Staates auf die grünen Zweige der Privatwirtschaft.
Die Entstaatlichung verhilft denjenigen Millionären, die bisher durch das private Ausnutzen ihrer staatlichen Befugnisse immense Reichtümer kreierten, zu einem ganz legalen Weg, die Kontrolle über die algerische Wirtschaft zu erhalten.
Der bevorzugte Weg dazu besteht im Aufkauf algerischer Schuldentitel an den internationalen Finanzmärkten, die derzeit mit einem Abschlag von bis zu 73 Prozent angeboten werden und vor allem bei Auslands-Algeriern beliebt sind. Die Rechnung ist einfach: Ein Schuldentitel über zehn Millionen Dollar wird für 2,7 Millionen Dollar erworben – und dem algerischen Staat gegen Firmenanteile in Höhe des Nennwerts von zehn Millionen Dollar überlassen. So lassen sich algerische Firmen für ein Viertel ihres Wertes kaufen.
Die Masse der Bevölkerung Algeriens muß demgegenüber in den nächsten Jahren wegen des Subventionsabbaus mit einer drastischen Verteuerung der bisher künstlich niedrig gehaltenen Grundnahrungsmittel leben.
Angesichts dessen ist zu verstehen, warum der algerische Präsident Lamine Zeroual sich so schnell wie möglich trotz des sich verschärfenden Bürgerkrieges in Präsidentschaftswahlen bestätigen lassen möchte. Das auf drei Jahre angesetzte Reformprogramm soll nicht durch sozialen Unmut getrübt werden. Sollte dies aufgehen, hätten Algeriens „alte Machthaber“ bis 1998 den Übergang in neue Zeiten geschafft – zumindest wirtschaftlich. Das Land würde dann seinen Nachbarn Marokko und Tunesien ähneln, die Algerien als entwicklungspolitische Musterschüler den Rang abgelaufen haben.
Ein harter Kern von im Besitz einer schmalen Elite befindlichen Privatunternehmen bringt die Wirtschaft zum Blühen und sorgt für internationales Prestige, das die weniger liberalen politischen Verhältnisse nur selten trüben.
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