: Jenseits von Märtyrertum und Heroismus
■ Das israelische Verhältnis zur Shoa: Tom Segevs „Die siebte Million“ auf arte
Der israelische Journalist Tom Segev hat ein Buch über Israel und die Shoa geschrieben: „Die siebte Million“. Der Film zum Buch, eine zweiteilige Dokumentation, die nun auf arte zu sehen ist, ist ein illustrierter, historischer Rundgang, der auf eine Entrümpelung der Gründungsmythen zielt. Israel, so die Botschaft, braucht keine Legenden über Helden und Märtyrer mehr. Ins Fadenkreuz der Kritik rückt der Zionismus, der einzige geglückte große Gesellschaftsentwurf des 19. Jahrhunderts.
Nach der Pogromnacht in Deutschland 1938 schrieb David Ben Gurion: Wenn ich die Macht hätte, alle jüdischen Kinder aus Deutschland nach England zu schaffen oder die Hälfte nach Palästina, würde ich die zweite Möglichkeit wählen. Solche Sätze munitionieren Segevs Anklage gegen den Jischuv, die jüdische Gemeinde in Palästina. Nachdem 1942 Rommels Vormarsch auf Palästina gestoppt wurde, ging das Leben im Jischuv normal weiter. Auf grünstichigen Bildern sehen wir idyllische Badeszenen aus Tel Aviv. In einer Zeitung von 1942 findet sich unter der Meldung, daß die Fußballmannschaft Maccabi Damaskus gesiegt habe, eine Notiz über den Naziterror in Kharkov. Die Nazis waren wieder ein ferner Schrecken. Diese Ignoranz wurde, so Segev, durch die zionistische Ideologie gestützt, in der die Diasporajuden passiv und unselbständig erschienen, das Gegenbild des zionistischen Juden, der sein Schicksal entschlossen in die Hand nahm. Auf Dokumentarbildern schauen markige Pioniere also ähnlich froh in die Zukunft wie in sowjetischen Propagandafilmen.
Der Jischuv, so Segevs Folgerung, versäumt es, alles Menschenmögliche zu tun, um europäische Juden zu retten. Im kruden Detail, daß die Gedenkstätte Yad Vashem schon 1942 geplant wurde, zeigte sich ein funktionalistisches Verhältnis zum Holocaust, der eben vor allem bewies, daß Juden nur in Palästina sicher waren. „Während man bereits an die Verewigung der Shoa dachte, waren die meisten Opfer noch am Leben“, kommentiert Segev. Diese Haltung bekamen auch die Überlebenden zu spüren, die nach 1945 nach Palästina kamen. Man begegnete ihnen mißtrauisch, manchmal feindlich. Der Mythos, auf den sich die israelische Gesellschaft damals einigte, lautete: Märtyrer und Helden. Man ikonisierte den Warschauer- Ghetto-Aufstand und erkor dessen Heroen nachträglich zu den ersten Israelis. Über die Opfer fiel kaum ein Wort. Sie waren Tabu – „dunkles Familiengeheimnis“.
Das Schweigen der 50er Jahre wurde 1961 mit dem Eichmann- Prozeß durchbrochen. Eines der interessantesten Bilder zeigt den Schriftsteller Jehiel Dinur, der unter dem Pseudonym Ka-Zetnik seine Erinnerung an Auschwitz publiziert hatte. Im Zeugenstand begann er zu stottern, dann brach er, überwältigt von der Erinnerung, ohnmächtig zusammen. Damals rückte die Tragödie der Überlebenden zum ersten Mal mit Macht ins öffentliche Bewußtsein.
Segev tritt in dem Film als moralischer Kritiker auf, sein Konterpart ist der Historiker Jechiam Weiz, der die historischen Bedingungen betont. „Menschen“, so Weiz zu dem Verhalten des Jischuv, „können nicht lange trauern, ohne irre zu werden.“ Was heute klar scheint, war es damals nicht. Denn in den 40ern gab es für die totale Vernichtung keinen Begriff, kein historisches Vorbild, kein Symbol. Zudem, so Weiz, torpedierten keineswegs die Zionisten, sondern die Briten alle Rettungsversuche, weil sie in Palästina nicht mehr Juden dulden wollten.
Für Deutsche ist Segevs Untersuchung nicht nur deshalb interessant, weil es hierzulande keine vergleichbare, Politik, Kultur, Alltagsleben und Ideologie umfassende Studie gibt. Sie öffnet zudem, ähnlich wie die Arbeiten von James E. Young, den Blick: Wie funktioniert ein kollektives Gedächtnis? Wo ist Erinnerung authentisch, wo funktionalisierbare Phrase? Darin liegt im stupidesten Fall der billige Trost, daß es die anderen auch nicht besser machen, im besseren Horizonterweiterung. Segevs Arbeit ist auch ein Schlüssel, der das komplizierte israelische Selbstverständnis begreifbar macht. Sie schafft, gerade für die zweite und dritte deutsche Post-Nazi-Generation, einen Zugang, der die Gegenwärtigkeit der Geschichte schlagender verdeutlicht als akademische Debatten über politisch korrekte Denkmäler. „Deutsche“, so Tom Segev in einem Interview, „können in dem Buch und dem Film etwas lernen. Vielleicht sogar über sich selbst.“ Stefan Reinecke
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