: Wehrhafter Kampf gegen den Verkehr
■ Statt den Verkehr zu reduzieren, werden dickere Fensterscheiben eingebaut oder Lärmschutzwände errichtet / Fast zwanzig Straßen mit „kritischen“ Emissionen
Jahrelang konnte Amir Naksoud nachts kaum schlafen. Alle Zimmer seiner Wohnung lagen an der vielbefahrenen Neuköllner Flughafenstraße. Und auf dieser kannte man keine Nachtruhe. Die Autos seien über das Kopfsteinpflaster gedonnert, die Fahrer hätten sich wenig aus der Geschwindigkeitsbeschränkung gemacht. Auch tagsüber, wenn sich die mobilen Kolonnen auf dem kürzesten Weg von Tempelhof nach Neukölln durch die Flughafenstraße drängten, war es unerträglich. Naksoud: „Da war es nicht möglich, sich bei geöffnetem Fenster zu unterhalten.“
Die Wege zum Hausbesitzer und mit diesem zu den Umweltbehörden sind ungezählt, erinnert sich Naksoud. Als das Umweltamt Messungen durchführte, lagen die Zeiger „immer im roten Bereich“. Der Schallpegel überschritt tagsüber 70 Dezibel (dB), in den Wohnungen seien mehr als 65 festgestellt worden. Heute, nachdem der Vermieter Zuschüsse für dickere Fensterscheiben erhalten habe und die Geschwindigkeit für Autos auf 30 Kilometer pro Stunde beschränkt wurde, könne man zwar wieder schlafen, weil die Grenzwerte 55 Dezibel nicht überstiegen, so Naksoud. „Eine Unterhaltung tagsüber auf dem Balkon dagegen fällt nach wie vor flach, weil die Autos weiter rasen.“
Die Flughafenstraße zählt mit weiteren 17 Berliner Routen zu den innerstädtischen Straßenschluchten mit besonders hohem Lärmpegel. „Kritische“ Emissionen beim Verkehrslärm von über 75 dB stellte eine Studie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beispielsweise an der Dudenstraße, der Karl-Marx-Straße oder entlang der Leipziger Straße fest. Brüllend laut ist es auch an der Frankfurter Allee, auf der Entlastungsstraße und an der Warschauer Straße.
Wohngebiete wie die an der Kantstraße, der Schönhauser Allee und an der Stralauer Allee haben mit Lärmbelastungen zu kämpfen, die weit über den Grenzwerten von tagsüber 65 dB liegen. Lärmvermeidung durch -reduzierung mittels einer Senkung der Höchstgeschwindigkeit oder des Verkehrsaufkommens ist infolge der Prioritätensetzung auf den Privatverkehr auf der „Halde geplatzter Träume“ angelangt. Statt dessen setzt man auf „passiven“ Lärmschutz in den Citystraßen: dickere Fensterscheiben, Doppelverglasung, neue Fenster – alles Maßnahmen, die zwar gefördert werden, aber teuer bleiben.
Bei der „aktiven“ Lärmvermeidung an Autobahnen, Bahngleisen oder Bundesstraßen, die an Wohngebieten oder Gewerbestandorten vorbeiführen, führt Berlin einen Abwehrkampf. Zwischen breite Fahrbahnen und Wohnflächen, Naturräume und Arbeitsstandorte wurden kilometerlange wehrhafte Palisadenzäune gebaut, als hätte man Belagerungen zu fürchten. Allein an der Autobahn durch den Tegeler Forst bilden 5,5 Kilometer lange Holzwände einen Superriegel gegen Lärm und Staub. An der Avus und an der A11 in Tegel stehen Lärmschutzwände aus Metall, die mit Zinnen bekrönt sind. „Dieser Lärmschutz für 3,3 Millionen Mark war der letzte Aluminiumschutz“, so Lärmexperte Misch aus der Bauverwaltung. Nun setze man auf ökologischen Lärmschutz: Holz oder Grünwände. So sei eine Holzschutzwand in Bohnsdorf für 8,8 Millionen Mark in Holz gefertigt worden, und am Sachsendamm sei geplant, noch 1995 für 1,2 Millionen Mark begrünte Lärmschutzwände zu errichten.
Den Grundstein für einen 1.400 Meter langen Lärmschutzwall zwischen den S-Bahnhöfen Wartenberg und Hohenschönhausen legte in der vergangenen Woche Bausenator Wolfgang Nagel. Für sieben Millionen Mark sollen künftig Wohnbauten, Schulen, Kitas und ein Gemeindezentrum hinter einem 8,5 Meter hohen Wall verschwinden, auf dessen Krone ein Fußweg angelegt wird.
Es ist keine Frage. Hinter den Schutzwänden verstummt zwar nicht der Verkehrslärm, sein Dröhnen mutiert jedoch zu einem leisen Brummen. [Krach bleibt Krach, da helfen keine Palisaden! d. säzzer] Dabei schneiden die „natürlichen“ Lärmschutzwände aus Holz, Grün und Erde besser ab als die künstlichen aus Lochblechen, Kunststoff oder Aluminium. Auch das Aussehen der Lärmschutzvorrichtungen ist der Bauverwaltung nicht egal. Nicht etwa an Straßenräumen, wo die Kunstwälle knallgelb, rot oder violett daherkommen, wolle man sich orientieren, sondern an der Natur, so Misch. Grüne Farbe werde deshalb besonders gern verwandt. Oder man gibt sich transparent: Am Nicolassee wurden durchsichtige Wände aufgestellt, damit „die Topographie des Geländes erkennbar bleibt“. Rolf Lautenschläger
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