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Ans Gedenken will keiner denken

Am Jahrestag des Brandanschlages will die Solinger Bevölkerung nur ungern daran erinnert werden / Die Anwälte der Opfer werfen den Ermittlungsbehörden Versäumnisse vor  ■ Aus Solingen Walter Jakobs

Zwei Jahre nach dem mörderischen Brandanschlag in Solingen sollte es eigentlich drei „stille Minuten des Gedenkens“ geben, doch von Ruhe und Erinnerung war gestern mittag in Solingen nicht viel zu spüren. Der Verkehr rollt wie gewohnt, und in der Fußgängerpassage hält kaum jemand inne, um dem von der Initiative SOS Rassismus initiierten Aufruf zu folgen. Nur in den städtischen Institutionen – der Stadtrat hatte die Gedenkinitiative einstimmig befürwortet – ruht von 12.00 bis 12.03 Uhr weitgehend die Arbeit, ansonsten geht in der Klingenstadt alles seinen gewohnten Gang. Daß der größte Teil der Solinger Bevölkerung von dem tödlichen Anschlag, der Hatice Genç (18) ebenso wie ihre ältere Schwester Gürsun Ince, Kamil Gençs Töchter Hülya und Saime sowie die zwölfjährige Gülüstan Öztürk das Leben kostete, nichts mehr hören will, hat schon der Samstag gezeigt. Kaum ein Passant, der sich beim „Interkulturellen Forum“ in der Innenstadt ein paar Minuten Zeit zur Reflexion nimmt. Statt dessen schlägt den Initiativen, die für ein friedliches Miteinander wirben und gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus Position beziehen, zum Teil offener Haß entgegen: „Tut mal was für die Deutschen“ oder „Die haben sich doch selbst verbrannt“ lauten die Anwürfe, die die Solinger Lokalpresse gestern verbreitete.

Diese üble Verleumdung der Familie Genç kursiert schon länger in Solingen, und sie fand sogar Anfang März dieses Jahres Eingang in den in Düsseldorf laufenden Prozeß. Daß überhaupt solche absurden Gerüchte bei einigen Solinger Bürgern auf fruchtbaren Boden stoßen, führen die Anwälte der Familie Genç, die vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf als Nebenkläger auftritt, auch auf „die teilweise einseitige Darstellung des Verlaufs der Hauptverhandlung in den Medien zurück“. Rechtsanwalt Rainer Brüssow warf gestern den Medien vor, sie würden einzelne Aussagen der Angeklagten – etwa der Widerruf eines Geständnisses oder die Einzeltäterversion – groß aufmachen und gleichzeitig vom Kern des Tatvorwurfs immer wieder ablenken: „Für uns ist der Kernbereich aufgeklärt. Nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme steht für die Nebenkläger fest, daß die wahren Täter auf der Anklagebank sitzen und die Verurteilung aller vier Angeklagten die Folge sein wird.“ Brüssow rechnet mit einem Urteil noch vor der Sommerpause. Nach über einem Jahr Verhandlungsdauer steht am Mittwoch dieser Woche der hundertste Prozeßtag vor der Tür. Diese extrem lange Prozeßdauer – „eine kaum hinnehmbare Belastung für die Familie Genç“ (Brüssow) – hat nach Auffassung des Anwalts nicht das Gericht, sondern die ermttelnde Behörde zu verantworten. Ohne die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen „Versäumnisse und Pannen“, zum Beispiel bei der Untersuchung des Brandschutts, hätte die Beweisaufnahme Brüssow zufolge „erheblich verkürzt werden können“.

An der Seite von Brüssow äußerte sich gestern auch Mevlüde Genç, die als Großmutter und Mutter fünf Tote und einen schwerverletzten Sohn zu beklagen hat: „Seit zwei Jahren leben wir jede Stunde mit dem Leid. In unserem Inneren fühlen wir so, als seien wir alle schon gestorben.“ Sie erwarte, „daß die Gerechtigkeit ihren Platz einnimmt und die Schuldigen hart bestraft werden“. Auch am zweiten Jahrestag des grausamen Verbrechens appelliert Mevlüde Genç an alle Nationalitäten in Deutschland, in „Freundschaft und Brüderlichkeit“ zusammenzuleben: „Meine Kinder sind hier geboren. Ich will weiter hier leben. Wir wollen Brüder und Geschwister sein.“

Während der offiziellen Trauerfeier in einer Solinger Moschee hatten am Sonntag der nordrhein- westfälische Innenminister Herbert Schnoor und der türkische Generalkonsul Ömer Altug die Erinnerung an den Brandanschlag als eine wichtige Basis für ein friedliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken bezeichnet. Nur wer sich erinnere und die Ursachen der Fremdenfeindlichkeit bekämpfe, könne den inneren Frieden in Deutschland bewahren, sagte Schnoor.

Etwa 200 Menschen hielten in der Nacht zum Montag eine Mahnwache am Tatort ab. Am Zaun des Grundstücks hingen Blumen und Transparente, auf denen das „Verbot aller faschistischen Organisationen“ gefordert wurde. Ein weithin sichbares „Zeichen gegen Rassismus und Gewalt“ setzten etwa 20 Solinger SchülerInnen an der Stirnwand des Solinger Rathauses. Unter Anleitung der beiden Maler Klaus Klinger und Sabahattim Sen schufen die Kids ein riesiges Wandbild: Ein aus der Erdkugel wachsender, in der Mitte per Pinselstrich zwischen Gut und Böse geteilter Baum zeigt dabei in scharfem Kontrast zwei mögliche Wege des Zusammenlebens. Während die linke Hälfte des Baumes in einer von Toleranz geprägten Umwelt aufwächst und in eine bunte und lebendige Zukunft weist, steht die rechte Seite in Flammen und verbreitet Tod und Trauer. Nur wenige hundert Meter von dem Wandbild entfernt zeigen großflächige Plakate das brennende Haus der Familie Genç. Der Schriftzug paßt auch für das Gemälde: „Kopfschütteln verhindert keine Brände“.

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