: Historiker im methodologischen Vakuum
■ Nach dem Ende des Monopols marxistisch-leninistischer Erklärungsmuster: Eine weißrussische Fachzeitschrift versucht nun, interdisziplinäre Ansätze zu vermitteln
Als die Republik Belarus noch die weißrussische sozialistische Sowjetrepublik war, popularisierten Historiker in ihren Arbeiten Thesen, die in vollständigem Gegensatz zu den historischen Fakten standen, dafür aber mit den ideologischen Prinzipien der Kommunisten übereinstimmten. Diese Mythen in Thesenform behaupteten unter anderem: die Existenz einer einzigen Urethnie der „Russen“, die der Ursprung aller Russen, Ukrainer und Weißrussen sein sollte; eine uralte Sehnsucht der Weißrussen nach Vereinigung mit Rußland; die traditionell progressive Politik Moskaus gegenüber seinen Nachbarvölkern gegenüber dem reaktionären Charakter aller nationaldemokratischen Bewegungen zum Beispiel auch Weißrußlands; und schließlich die überwältigende Zustimmung aller Belorussen zum Bolschewismus.
Der Zusammenbruch des sowjetischen Regimes und die Schaffung einer eigenständigen Republik Weißrußland gab der belorussischen Geschichtsschreibung die Möglichkeit, die etablierten Lügen über die Vergangenheit unseres Landes aufzudecken und die alte Geschichtsschreibung zu revidieren. Das war für die postsowjetischen Akademiker, die ja mit dem schweren Erbe des Totalitarismus auch selbst zu kämpfen haben, aber keine leichte Aufgabe.
In der sowjetischen Ära stand in Weißrußland zu keinem Zeitpunkt eine der wichtigsten Grundlagen für die normale Entwicklung historischer Studien zur Verfügung – eine Spezialzeitschrift nämlich, die sich mit historischen Forschungen befaßt. Jetzt aber wurden Themen, die früher nur unter bestimmten ideologischen Paradigmen abgehandelt worden waren (wie Klassenkampf, die Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei, Ökonomie), von vielen Wissenschaftlern spontan aufgegriffen. Dabei hingen die neuen Themen recht willkürlich vom jeweiligen persönlichen Interesse des Forschers oder von zufälligen Archivfunden ab.
Ein übergreifendes Programm fehlte ganz, und in den meisten Fällen hatten die Historiker keine allgemeine Vorstellung von ihrem Forschungsgebiet; theoretisch- methodologische Probleme wurden gar nicht erst angegangen. Bis heute gibt es in Weißrußland keinen einzigen Fachbereich oder Lehrstuhl für Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaften. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß diese neuen empirischen Studien keinerlei theoretische Orientierung aufweisen und nicht einmal die grundlegendsten Fragen wenigstens formulieren; folglich sind sie häufig reine Zeit- und Geldverschwendung. Das Ergebnis ist, daß unsere Historiker zur Zeit nichts anderes zustande bringen als Monographien zu sehr umgrenzten Themen.
In den ersten Jahren der Existenz der Republik ist keine wesentliche Erneuerung in den Geschichtswissenschaften und auch keine Stärkung der Demokratie zustande gekommen. Die Macht blieb in den Händen der Kommunisten und ihrer Unterstützer, die absolut kein Interesse an einer Rekonstruktion historischer Forschung haben.
Hinzu kommt, daß der Zustand der Geschichtswissenschaften ohnehin schon schlecht genug ist. Die Stellen des gesamten Forschungspersonals an der Akademie der Wissenschaften sind extrem zusammengestrichen worden, und auch das Ende des methodologischen Monopols marxistisch-leninistischer Erklärungsmuster hat ein Vakuum hinterlassen. Junge Akademiker mißtrauen jeder Theorie und verfallen nun leicht in das absolute Gegenteil einer Fetischisierung von „Tatsachen“. Die älteren halten sich zum größten Teil weiter an ihrem alten Marxismus fest. Nichtmarxistische Methodologie ist hier so gut wie unbekannt, und akuter Geldmangel bedeutet auch, daß ausländische akademische Zeitschriften abbestellt werden mußten. Die Möglichkeit selbst privater Kontaktaufnahme mit westlichen Historikern ist äußerst begrenzt.
In dieser Situation wurde die Gründung einer eigenen akademischen Zeitschrift für Geschichte zu einer dringlichen Notwendigkeit. Da der Staat etwas Ähnliches weder initiieren noch unterstützen wollte, hat eine Gruppe junger Historiker vom Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften dies zu ihrer privaten Aufgabe gemacht. Ende des Jahres 1994 gründete man die Belarusian Historical Review.
Die Herausgeber dieser neuen Zeitschrift sehen als ihre Aufgabe die Erneuerung des historiographischen Prozesses in Weißrußland, die Entideologisierung akademischer Arbeit und eine Neubewertung aller stereotypen Aussagen und „Ergebnisse“, wie sie das totalitäre Regime hervorgebracht hat. Sie empfinden es als Verpflichtung, einen methodologischen Pluralismus zu fördern, der für die Mehrheit unserer Forscher bisher nicht annehmbar gewesen ist, die Stimme der eigenen Forschung im Lande international hörbar zu machen (die Zeitschrift wird weltweit an Universitätsbibliotheken verschickt) und schließlich auch weißrussische Historiker mit Forschungsergebnissen des Westens bekannt zu machen.
Am allerdringlichsten ist dabei der Zugang zu Erfahrungen nichtmarxistischer Geschichtsschreibung im Westen und das Erlernen interdisziplinärer Forschungsmethoden. Deshalb hat die Zeitschrift mit der Veröffentlichung von Übersetzungen wichtiger Werke westlicher Belarus-Forschung begonnen, wobei solchen Texten der Vorzug gegeben wird, die sich mit methodologischen Problemen, mit ethnischen und nationenstiftenden Prozessen, mit Geistes- und Kulturgeschichte und ähnlichen historischen Fachrichtungen beschäftigen.
Leider ist die neue Zeitschrift in offiziellen Kreisen nicht gern gesehen. Man befaßt sich nicht einmal mit der Frage, ob sie unterstützungswürdig sei. Die Redaktionsarbeit wird von allen Beteiligten mit Enthusiasmus und unentgeltlich gemacht, die Produktionskosten können nur von Spendengeldern bezahlt werden. Die politische Tendenz in unserem Land weist zudem darauf hin, daß sich womöglich der Status der Zeitschrift bald ändern muß – daß sie nämlich bald schon zu einer illegalen Publikation werden muß. Ihnat Sahanovic
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