: „Die Grenzfrage könnte vorerst offenbleiben“
■ Arkadi Muraschew von der Reformpartei „Rußlands Wahl“ über den Bosnienkrieg
taz: Welche Position vertritt Ihre Fraktion zum Krieg in Jugoslawien?
Arkadi Muraschew: Während unsere Partei den Krieg in Tschetschenien völlig anders als unsere Regierung beurteilt, stimmen wir bei der Einschätzung des Krieges in Bosnien weitgehend mit der offiziellen russischen Position überein. Für uns ist klar: Die serbische Seite ist am Anfang als Aggressor aufgetreten. Daher unterstützen wir die Entscheidung des Kriegsgerichts in Den Haag, welches gegen den bosnischen Serbenchef Karadžić wegen Kriegsverbrechen ermittelt. Unter den Demokraten gibt es keine offen proserbischen Kräfte. Die konzentrieren sich alle bei den Nationalisten. Andererseits vertreten wir aber auch die Ansicht, daß die übereilte Anerkennung von Bosnien und Kroatien eine der Ursachen für den Ausbruch des Krieges war. Die künstlichen, von Tito geschaffenen Grenzen hätten nicht einfach festgeschrieben werden sollen. Und wir sagen: Jede der Kriegsparteien hat in diesem Konflikt nicht absolut richtig gehandelt.
Wer von den russischen Politikern unterstützt die Idee, daß alle Gebiete, in denen Serben wohnen, zu Serbien gehören sollen?
In dieser Frage haben wir keine Position. Die russischen Nationalisten begrüßen die Idee von „Groß- Serbien“. Ich schließe nicht aus, daß sich diese Idee in Zukunft vielleicht als die optimalste herausstellt. Natürlich muß der Staat Bosnien-Herzegowina völkerrechtlich von Restjugoslawien anerkannt werden. Die Anerkennung des Staates und die Grenzfrage müssen aber nicht gemeinsam erörtert werden. Die Grenzfrage könnte vorerst offenbleiben.
Welche Möglichkeit hat Rußland, die Position der Serben in Bosnien und Kroatien zu beeinflussen?
Rußland hat hierfür gute Voraussetzungen. Denn das Vertrauen der serbischen Führung zu Rußland ist um vieles höher als zu den westlichen Partnern. Darum kann und soll Rußland als Vermittler auftreten.
Welche Maßnahmen der Weltgemeinschaft wären heute sinnvoll?
Alle Maßnahmen politischen Charakters sind effektiv: politischer Druck, internationale Beobachter, Unterstützung serbischer oppositioneller Kräfte. Unsere Partei zum Beispiel hat freundschaftliche Beziehungen zur Opposition in Restjugoslawien. Wirtschaftliche Maßnahmen sind, wie die Erfahrung zeigt, dagegen wenig effektiv. Sie richten sich nur ihrer Form nach gegen die Führung, betreffen aber real vor allem die Bevölkerung.
In der offiziellen russischen Politik gibt es heute eine starke nationalistische Tendenz. Gewinnt diese Tendenz in bezug auf Jugoslawien unter der russischen Bevölkerung an Bedeutung?
Wir haben nicht den Eindruck. Die Mehrheit der russischen Bürger hält sich neutral, insbesondere, was den Jugoslawienkonflikt betrifft. Das ist genau wie 1914. Der Mehrheit des russischen Volkes war die Solidarität mit den serbischen Brüdern gleichgültig. Der nationalistische Taumel wurde erst von der Presse künstlich hervorgerufen. Bisher vertreten die demokratischen Blätter jedoch eine ausgewogene Position. Bei der Beurteilung, wer schuld am Konflikt ist, halten sie sich zurück. Die Presse der Opposition ist dagegen eindeutig proserbisch. Interview: Ulrich Heyden
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