Koka ist nicht Kokain

Ein überfälliges Plädoyer für die Legalisierung und internationale Vermarktung der Kokapflanze / In den Anden ist der Konsum eine alte Tradition  ■ Von Kai Ambos

Hoch oben in den Anden Perus oder Boliviens. Sie fühlen sich schwindelig und schwach, die Luft ist dünn, das Klima drückend schwül, der Kopf schmerzt. Das in der Reiseapotheke mitgeführte Aspirin zeigt wenig Wirkung. Eine der am Straßenrand sitzenden Bäuerinnen winkt Sie zu sich. Um sie herum Körbe voller Kokablätter. Sie formt die grünlich-ovalen Blätter mit einer kalkähnlichen Substanz zu kleinen Kügelchen und steckt sie in ihre linke Backe. Kauend, mit einem zufriedenen Grinsen, bietet sie Ihnen auch ein Kügelchen an. Zuerst zögern Sie, doch der Schmerz ... Sie greifen zu.

Bald schon fühlen Sie sich wie beim Zahnarzt: Ihre mit der Kokamischung gefüllte Backe ist wie betäubt. Langsam fühlen Sie sich irgendwie besser, der Druck auf den Kopf läßt nach. Sie sind so begeistert, daß sie der Bäuerin gleich einige Tüten Kokablätter abkaufen. Sie bittet Sie zu warten. Unter ihrem Rock holt sie eine Kanne heißen Wassers und eine Tasse hervor. Sie legt einige Blätter in die Tasse, gießt das Wasser auf und tut etwas Zucker dazu. „Trink, es hilft.“ Die Flüssigkeit schmeckt ein bißchen wie Kamillentee.

Bei Kopfschmerzen, Magenverstimmungen oder jeglichem Unwohlsein wenden Sie das Rezept künftig wiederholt an. Auf einem Markt kaufen Sie einige Kokablätter in Teebeuteln, den sogenannten „Mate de Coca“, der in Peru und Bolivien wie ein normales Produkt legal verkauft wird. Sie wollen einige Packungen nach Deutschland mitnehmen, um Ihrer Familie und Ihren Freunden dieses wundersame Heilmittel vorzustellen.

Am Flughafen Frankfurt bittet Sie der Beamte von der Rauschgiftfahndung, mal ihre Koffer zu öffnen. Als er die Kokablätter und den Kokatee sieht, erklärt er Ihnen die vorläufige Festnahme wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Nach der Anlage II dieses Gesetzes gelten Kokablätter als Betäubungsmittel. Ihre Einfuhr und ihr Besitz sind deshalb nach § 29 I dieses Gesetzes – ohne eine spezielle Erlaubnis des Bundesgesundheitsamtes (§ 3 I) – strafbar. Sie verstehen die Welt nicht mehr: Wie kann etwas in Deutschland strafbar sein, was in den Herkunftsländern erlaubt ist? Dies verstehen auch andere Menschen nicht, eigentlich fast alle, die einmal in Peru oder Bolivien waren und die Koka kennengelernt haben.

Die bolivianische Regierung Paz Zamora bemühte sich im Rahmen einer „Kokadiplomatie“ zunächst, die Kokapflanze international salonfähig zu machen. Dies ist jedoch auf Ablehnung bei den westlichen Regierungen gestoßen. Ihr zunehmender Druck, insbesondere der USA, veranlaßte die amtierende Regierung von Sanchez de Lozada, die sogenannte Nulloption „opcion cero“ vorzuschlagen, wonach die gesamte illegale Koka vernichtet werden sollte. Doch diese Position war innenpolitisch nicht haltbar und mußte aufgegeben werden. So bewegt sich die bolivianische Politik heute auf einem schmalen Grad zwischen der international geforderten Zerstörung der Koka und einer nationalen Realität, zu der der Kokaanbau und -konsum genauso gehört wie der Weinanbau und -konsum in Europa. Auch Peru bemüht sich um ein international besseres Verständnis für die traditionellen Kokagebräuche, befindet sich jedoch in einer ähnlichen Lage wie Bolivien.

Denn die Vorurteile gegen Koka sitzen tief. Der „Internatioale Drogenkontrollrat“, das höchste drogenkontrollpolitische Fachgremium der UNO, hat jegliche Legalisierung oder Kommerzialisierung immer als gefährlich bezeichnet und davor gewarnt. Erst nach einer Mission in Peru und Bolivien im Jahre 1993 wurde anerkannt, daß es eine Realität traditionellen Kokagebrauchs gibt, die bisher zu wenig von der internationalen Staatengemeinschaft berücksichtigt wurde. Die UN-Drogenkommission hat in ihrer 36. Sitzung im April 1993 in einer Resolution unter anderem festgestellt, daß „das Kokablatt nicht dasselbe wie Kokain“ sei. Die betreffenden Anbauländer wurden indirekt dazu aufgefordert, das vertraglich vorgesehene Verfahren einzuleiten, um die Koka von der Liste der Betäubungsmittel streichen zu lassen.

Auch in Europa tut sich, nicht zuletzt aufgrund einer von Solidaritäts- und regierungsunabhängigen Gruppen organisierten europäischen Kokakampagne, einiges. Im Februar 1995 hat die Abgeordnetenkammer Luxemburgs einen Antrag verabschiedet, in dem unter anderem die europäische Kokapolitik angezweifelt und die Schaffung eines legalen Kokamarktes angeregt wird. Im April hat die stellvertretende drogenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Gudrun Schaich- Walch, angekündigt, daß ihre Fraktion sich verstärkt mit dem Problem befassen und eventuell einen ähnlichen Antrag in den Bundestag einbringen werde.

Zur Zeit befindet sich jedoch die „Kokadiplomatie“ der Anbauländer angesichts der unverhohlenen Drohungen des großen Bruders USA in einer Sackgasse. Das peruanische Außenministerium, so informierte Kreise, „sterbe vor Angst“, wenn es um das Thema gehe, da die USA keinerlei Abweichung von der internationalen Prohibitionslinie dulden. Diese Länder sind also dringend auf die Unterstützung Europas angewiesen. Die im Westen verbreiteten Vorurteile gegen die Koka haben jedoch lange zurückreichende historische Wurzeln.

Zur Zeit des Inkareiches im 13. bis 16. Jahrhundert hatte Koka als heilige Pflanze zahlreiche Funktionen, die sich teilweise bis heute gehalten haben. Nach einem Schöpfungsmythos der Inka wurde Koka den Menschen von Manko Kapak („Sohn der Sonne“) als göttliches Geschenk überbracht, um „den Betrübten zu erheitern, dem Müden und Erschöpften neue Kräfte zu bringen und den Hungrigen zu sättigen“. Bei religiösen Zeremonien wurden „Koka-Opfer“ dargebracht, mit einem Kokabissen im Mund wurden die Götter angerufen, und den Toten wurden Kokablätter ins Grab gelegt, um ihnen eine wohlwollende Aufnahme im Jenseits zu verschaffen. Koka diente als Medizin und Zahlungsmittel, als Linderung gegen Hunger und Durst, insbesondere im Arbeitsprozeß: „Es wäre unmöglich ..., ohne Koka zu arbeiten ... , die Arbeiter würden sich ohne Koka zerstören ..., es würde Faulheit herrschen, wenn es Koka nicht gäbe.“ Der Konsum des Kokablattes wurde und wird vielfach gleichgesezt „mit der Teilnahme an der andinischen Kultur“.

Unter der Herrschaft der Spanier, die zunächst Koka – laut eines Kirchenkonzilbeschlusses – „als unnützes, verderbliches, zum Aberglauben verführendes Ding und Blendwerk des Teufels“ im Jahre 1569 verboten hatten, wurde bald der ökonomische Nutzen der Pflanze entdeckt. Als die spanischen Eroberer feststellten, „daß die Indios in den Minen 36 Stunden unter Tage bleiben können, ohne zu schlafen und zu essen“, wurde der Kokaanbau erhöht, um die Arbeitsproduktivität der in den Minen beschäftigten Indios durch Kokakonsum zu maximieren, ohne deren Lebensbedingungen verbessern zu müssen.

Als dem Göttinger Chemiker Niemann im Jahre 1860 die chemische Isolierung des Kokains gelang und 1886 Koka als Geschmacksstoff in Coca-Cola verwendet wurde, erlangte das Blatt weltweiten Ruhm. Dies hielt jedoch nicht lange an. Als Sigmund Freud 1883 Kokain in der Psychotherapie anwandte, stieß er auf erhebliche Kritik in der Fachwelt. Unter dem Eindruck des Todes seines mit Kokain behandelten Freundes Fleischl distanzierte sich Kokain- Konsument Freud von seiner „Kokainepisode“ und bestätigte in gewisser Weise seine Kritiker. Diese machten keinen weiteren Unterschied mehr zwischen Koka und Kokain und stellten Koka als Rauschgift und den kokakauenden Indio (Coqueo) als unzivilisierten, rauschgiftsüchtigen Wilden dar.

Am Ende dieser internationalen Kokadiskreditierungskampagne stand das völkerrechtliche Verbot der Koka in dem Drogen-„Einheitsübereinkommen“ von 1961, nach dem die Kokasträucher und das Kokakauen innerhalb von 25 Jahren „abgeschafft“ werden sollten. Die Wiener Drogenkonvention von 1988 hat zwar den traditionellen Gebrauch der Koka grundsätzlich anerkannt, doch die Zerstörungsanordnung von 1961 weiterhin aufrechterhalten.

Obwohl Kokain, ein Alkaloid, nur eines zahlreicher Inhaltsstoffe (Säuren, Mineralien, Vitamine, Proteine und so weiter) des Kokablattes ist und sein Anteil nur 0,5 bis 1,1 Prozent beträgt, hat sich in der westlichen Öffentlichkeit die wissenschaftliche Tatsache, daß Koka eben nicht Kokain ist, immer noch nicht durchgesetzt. Bei Vorträgen vor einem akademischen oder auch nichtakademischen Publikum stößt man immer wieder auf Erstaunen oder gar Entsetzen, wenn man Kokablätter zeigt oder Kokatee anbietet. Übereifrige Strafjuristen warnen vor möglicher Strafverfolgung, „normale“ Menschen haben nicht selten Angst vor möglichen Suchtfolgen.

Koka ist jedoch – ähnlich wie in der westlichen Kultur Tee, Kaffee oder Alkohol – Ritual und Genußmittel zugleich. Nach Angaben der Acción Andina, einem Zusammenschluß unabhängiger Experten in der Andenregion, gibt es in der Andenregion 8,1 Millionen Kokakonsumenten, was einer Anbaufläche von zirka 79.000 Hektar entspricht (zum Vergleich: die Gesamtanbaufläche wird auf 250.000 bis 300.000 Hektar geschätzt).

In der Koka steckt eine medizinische Potenz, die aufgrund der westlichen Diskreditierungspolitik zum großen Teil noch unerforscht ist. Vernachlässigt wurden und werden die zahlreichen heilsamen Wirkungen der Koka, sei es bei allgemeinem Unwohlsein nach übertriebenem Alkoholgenuß oder für die konkrete medizinische Praxis, etwa als Lokalanästhetikum. Übersehen wird auch, daß es neben dem Kokatee zahlreiche weitere Kokaprodukte gibt (Kokahonig, -zahnpasta, -wein, -sirup oder Arzneimittel, etwa Cocabetes, ein Antidiabetikum), von denen einige, etwa die Zahnpasta (oder das „entkokainisierte“ Coca Cola!), gar kein Koka enthalten. Experten, wie der peruanische Psychologe Cáceres, halten es sogar für möglich, diese Kokaprodukte als Substitut im Rahmen einer Therapie für Kokainkonsumenten zu verwenden.

Das Kokablatt sei, so Cáceres weiter, ein „organischer Verbund“, in dem das Kokain eben nur ein Element sei. Deshalb sind auch die Wirkungen von Koka und Kokain nicht vergleichbar. Es besteht unter den naturwissenschaftlichen Kennern der Materie Einigkeit, daß wegen des geringen Kokaingehalts und der Applikationsform des Kokablattes (Kauen oder noch weniger konzentriert in Nebenprodukten, etwa Tee) kokainähnliche Wirkungen (extreme Stimulierung und Halluzinationen) in der Regel ausgeschlossen werden können, da „beim Kokakauen nur relativ geringe, überwiegend nichttoxische Kokaindosen über den Blutkreislauf an die zentralnervösen Wirkungsfelder gebracht werden“ (Täschner/Richtberg, „Kokain-Report“, Wiesbaden 1982, S. 48). Deshalb hat inzwischen auch die deutsche „Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit“ (GTZ) mit Brief vom 13. 3. 1993 bei der Acción Andina nach den Möglichkeiten eines „alternativen Gebrauchs“ der Koka gefragt, um diese im Rahmen der EU vorzustellen.

Auch und gerade in der Bundesrepublik erscheint es deshalb an der Zeit, den Vorschlag einer Streichung der Kokablätter aus der Anlage II des BtMG endlich einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Das dagegen häufig vorgebrachte Argument, dies würde der Kokainproduktion in der Bundesrepublik Tür und Tor öffnen, hat zwar bei oberflächlicher Betrachtung etwas für sich, ist aber schlicht, wie der britische Anthropologe und Autor von „Mamakoka“, Anthony Henmann, es ausdrückt, „antiökonomisch“.

Der Koka-Kokainproduktionsprozeß umfaßt vier Phasen (Ernte und Trocknen der Blätter, rohe Kokapaste, Kokainbase, Kokainhydrochlorid), deren vollständige Durchführung in einem Konsumentenland angesichts des dort herrschenden hohen Lohnniveaus dem Geschäft für Dealer jegliche Rentabilität nehmen würde. Es entspricht vielmehr der herrschenden marktwirtschaftlichen Logik, die Produktion, wie bei anderen Produkten auch, in den Billiglohn- und Anbauländern der Andenregion durchführen zu lassen, denn nur das ist, ökonomisch betrachtet, lohnenswert. Im übrigen benötigt man zur Herstellung eines Kilogramms Chlorhydrats Kokain ca. 300 bis 500 Kilogramm, andere Quellen sprechen gar von 1.000 Kilogramm Kokablätter (je nach Alkaloidgehalt), deren private Einfuhr praktisch unmöglich ist. Verbleibenden Bedenken gegen eine völlig unbeschränkte Einfuhr von Kokablättern könnte schließlich mit mengenmäßigen Beschränkungen abgeholfen werden.

Über den Vorschlag einer Öffnung des nationalen Marktes für Koka hinaus sollte man auch für eine internationale Vermarktung der Koka ähnlich wie bei Kaffee, Tee etcetera eintreten. Dies hätte, insbesondere auch für die internationale Bekämpfung des Kokains, folgende Vorteile:

– Ein größerer Teil der Kokaanbauflächen würde für die legale Verarbeitung der Koka genutzt, so daß zur illegalen Herstellung von den gefährlichen Kokafolgeprodukten, insbesondere Kokain, weniger Koka zur Verfügung stünde.

– Die staatliche Autorität in den Kokazonen würde bei gleichzeitiger Schwächung von Drogenhandel und bewaffneten Gruppen gestärkt werden, da die Kokabauern mehr Vertrauen zu staatlichen Institutionen fassen würden.

– Der legale Teil der Volkswirtschaften Boliviens und Perus würde gestärkt und ihre Abhängigkeit von der illegalen Kokainwirtschaft verringert.

Nach Angaben der Acción Andina könnten allein durch die internationale Vermarktung des Kokatees 30.000 Hektar Anbaufläche „besetzt“ werden.

Und schließlich darf nicht vergessen werden, daß erst die Reform des BtMG es allen Deutschen möglich macht, in den Genuß der heilsamen Wirkungen der Koka zu kommen. Keine Angst: Koka macht weder „süchtig“ noch ist es mehr gesundheitsschädlich als andere tägliche Konsumgüter wie Kaffee oder Tee – eher weniger; man kann es nur mögen oder nicht.

Der Verfasser wurde am 19. Mai selbst „Opfer“ der deutschen Rechtslage, als sein zu Demonstrationszwecken mitgeführter Beutel Kokatee auf einem Seminar der Friedrich- Ebert-Stiftung in Potsdam von einem teilnehmenden Kriminalbeamten sichergestellt wurde. Die strafrechtlichen Folgen bleiben abzuwarten.