: Die anderen Opfer der Geiselnahme
■ Wird Boris Jelzin den Innenminister und den Geheimdienstchef entlassen?
Moskau (taz) – Wenn in Rußland morgen und nicht erst im Dezember gewählt würde, so wäre Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin mit seinem Block „Unser Haus Rußland“ der Sieg sicher. Im Geiseldrama von Budjonnowsk handelte er zwar erst, nachdem Boris Jelzin und die Duma ihn ausdrücklich dazu aufforderten. Daß er aber zu handeln versteht, hat er danach bewiesen. Lange Zeit ist Tschernomyrdin als Chef der staatlichen Energielieferantin Gasprom im Volksmund als Supermafioso verschrieen gewesen. Nun erinnert man sich seiner plötzlich als eines gestandenen Geschäftsmannes der Praxis und ehrlichen Maklers. „Da sieht man gleich, daß er Jahre in der Produktion zugebracht hat. So einer weiß, wie eine kitzlige Angelegenheit anzupacken ist und auch, wie man mit Flegeln redet“, so eine oft zu hörende Meinung.
Was nun das Image des eigentlichen Präsidenten des Imperiums angeht so trat ein, was man schon für unmöglich hielt: Jelzins Ansehen sank noch unter die zuletzt erreichte Nullmarge. „Der Präsident Rußlands hätte nicht nach Halifax fahren dürfen. Solange das Leben von Tausenden unserer Mitbürger auf dem Spiel steht, sollte sein Platz dort sein, wo er darüber verhandeln kann. Und verhandeln müßte er in einem solchen Falle sogar mit dem Teufel.“ Dieser Satz eines parlamentarischen Hinterbänklers, noch am Freitag in der Duma geäußert, bezeugt, daß der Mann seinem Wahlvolk wahrhaft nahe steht. Wenn über die Rolle des Präsidenten in der Affäre von Budjonnowsk heute an russischen Küchentischen nicht mehr groß geredet wird, so vermutlich vor allem deshalb, weil sich ohnehin niemand mehr irgend etwas von ihm erwartet.
Der Präsident hatte verlauten lassen, er hielte den Premier sowie den Innenminister und den Geheimdienstchef für kompetent genug, in seiner Abwesenheit den Fall allein zu lösen. Daß jedoch die letzen zwei den Einzug von schätzungsweise 100 tschetschenischen Freischärlern über 150 Kilometer innerhalb des Großbezirks Stawropol einfach verschliefen, führte am Freitag zu einer nie dagewesenen Traummehrheit gegen die Regierung. Am Mittwoch soll nun über ein Mißtrauensvotum gegen sie abgestimmt werden.
Mit seinem eindrucksvollen Verhandlungserfolg hat Tschernomyrdin das Kabinett jedoch zum Teil wieder aus dem Sumpf gezogen. Es bleibt die Frage, ob Jelzin nicht doch gezwungen sein wird, die sogenannten „Machtminister“ zu opfern. Seine bekannte Liebe zu Innenminister Viktor Jerin wird ihn in diesem Falle zögern lassen, während seine Hand – vorausgesetzt andere Gründe fehlen – sicherlich nicht zu zittern bräuchte, um Geheimdienstchef Stepaschin zu entlassen.
Bei späteren Untersuchungen wird gewiß noch ein weiterer Widerspruch in den Aussagen der Verantwortlichen eine Rolle spielen. Während der stellvertretende Direktor des Förderalen Gegenspionagedienstese, Nikolai Kowaljow, vor dem Parlament behauptete, seiner Behörde seien keinerlei Hinweise auf die Aktion der Rebellen bekannt geworden, widersprach ihm ausgerechnet Duma-Präsident Iwan Rybkin: In der Nacht vom 12. zum 13. Juni, also zwei Tage vor Beginn der Geiselnahme, seien alle Gouverneure und die Leiter der Verwaltung des betroffenen Kreises in chiffrierten Telegrammen vor einem möglichen Durchbruch von Rebellen gewarnt worden. Barbara Kerneck
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