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Schlechtbesuchte Höllenfahrt der Sinne

Ein Provinzbesuch, der hungrig machte: Theaterformen 95 – ein spannendes Festival in Braunschweig  ■ Von Kai Voigtländer

Weh euch, ihr Einwohner Braunschweigs und Wolfenbüttels, das Theater der Welt zieht an euch vorbei in geordneter Bahn – und ihr bemerkt es nicht! Theaterformen 95, ein kleines Festival mit einem großartigen, klug zusammengestellten Programm, nach vier Jahren der Abstinenz wieder in Braunschweig – doch Schlangen an der Festivalkasse suchte der Fremde vergebens.

Die klösterlich strengen Exerzitien Anatoli Vassilievs, dargeboten von einem exzellenten Ensemble für altrussischen Kirchengesang – und der Spielort Magnikirche ist nicht bis zum Bersten gefüllt! Robert Lepage entrollt fünf der sieben Bilderbögen seines Hiroshima-Epos, ein sechsstündiges, anrührendes Traumspiel, das die Zuschauer verwandelt verlassen – und nur gut zur Hälfte besetzt sind die Plätze im Lessingtheater in Wolfenbüttel!

Und die sie besetzen! Hamburger zumeist, die sich – ja, Braunschweiger, es hilft nichts, wir müssen es aussprechen – in die ferne Provinz bemüht haben, um deutsche Erst- und Uraufführungen aus Maribor, Moskau, Québec, Stockholm und Durban zu besichtigen. Daß Bevölkerung und lokale Presse ein eher gespaltenes Verhältnis zum Staatstheater und seinem Programm pflegen, hatten wir wohl gehört, daß sich das aber auch auf die Gastspiele des Welttheaters erstreckt...

Ein Bild setzt sich fest und läßt sich nicht mehr vertreiben angesichts des Bühnenraums, den Anatoli Vassiliev in die Magnikirche gebaut hat: Tarkowskij, Schlußeinstellung Nostalghia, die Kirchenruine, deren Inneres eine hügelige, grasbewachsene Landschaft birgt. Dabei zeigt die Bühne nur zwei weiße Wände, parallel gestellt mit einer schmalen Gasse, in gefährliche Schräglage geneigt, rhythmisch durchbrochen von großen und kleinen Rundbögen. Drei Fensterreihen, in deren Öffnungen Kerzen auf Haltern montiert sind. Dreizehn Sängerinnen und Sänger bewegen sich, gemessen, leise eilend, zu immer neuen Konstellationen durch den Raum.

In Gruppen, allein gegeneinander gestellt, in streng choreographierter Prozession, erzeugen sie fremd klingende Melodiebögen über schwebenden Akkorden. Doch was heißt schon Melodie und Akkord? Halb- oder vierteltönig auf- und absteigende Reibungen hört man, die kurz Harmonie antäuschen, um dann wieder gegeneinander zu klirren. Klangarchitektur, fast ohne Anhalt in vertrauten Taktstrukturen oder Tonleitern.

Die Klagelieder Jeremias bringt Vassiliev zur Aufführung mit einer eigens für dieses Ensemble komponierten Musik. Ein alttestamentarisches Buch, das kultische Klagelieder und kollektive Weherufe versammelt – Zeugnisse einer Zeit, in der die Klage eine Liturgie, sprich: einen öffentlichen Ort hatte und nicht völlig dem Privatbereich – oder dem Evangelischen Kirchentag – vorbehalten war. Der Inhalt der Klage, lesen wir im Programm, sei nicht wesentlich. Wesentlich sei nur der energetische Strom, in den die einzelnen sich mit ihrem Weinen um die Welt einfügen können.

Das hat Vassiliev sehr konsequent umgesetzt: nicht nur, weil der Text nicht zu verstehen ist, wenn man nicht zufällig des Kirchenslawischen mächtig ist, sondern auch, weil er das Ensemble in stets gleichfarbige Kutten, Stolen und Kapuzen gewandet: Körperausdruck und Invididualität sind ausgelöscht, diese Sängerinnen und Sänger sind klingende Hohlkörper des Geistes. Fragt sich nur, welchen Geistes. Mit religiösem Ernst zelebriert Vassiliev seinen Abschied vom psychologischen Realismus.

Gewiß hat es seinen Reiz, sich auf die Reise zu machen zu den kultischen Wurzeln des Theaters – wenn es nur nicht so verzweifelt genau die Tristesse der russischen Gegenwart spiegeln, wenn es nicht so vertraut russisch-reaktionär riechen würde.

Eine Reise ganz anderer Art unternimmt das Slowenische Nationaltheater aus Maribor mit seinem gerade 32jährigen Leiter Tomas Pandur. Im Halbdunkel, begleitet von ohrenbetäubendem Lärm, stolpert das Publikum zu seinen Stühlen. Flugzeuge starten, Rotorblätter donnern gefährlich nahe vorbei, eine Ansage verkündete Unverständliches. Die Stühle sind drehbar, freie Sicht nach allen Seiten aus dem Publikumsgraben. Die Höllenfahrt der Sinne kann beginnen – join us from Inferno via Purgatorio to Paradise. Die Reiseleiter: zwei kahlköpfige Dichter im dunklen, schweren Ledermantel: Dante Aligheri und Vergil, letzterer des ersteren Vorbild und Lehrmeister.

Ein nackter Engel schwebt hoch in der Luft, spuckt kreischende Sätze aus, ein fetter, bebrillter Mönch reißt sich mit der Hand große Stücke aus seinem Bauch und verspeist sie lustvoll. Irgendwann stehen sie alle auf der Bühne, die grellgeschminkten, kahlköpfigen Horrorgestalten. Jeder einen Schädel im Arm, aus dessen geöffneter Schale er lange Fäden zum Mund führt. Tanzende Paare kleben aneinander, zucken in hilflosen Bewegungen, paralysierte Marionetten, die nicht von der Stelle kommen. Ein rostiger Schiffsbauch, keine Außenwelt, nur trübes Dämmerlicht durch Bullaugen: die Hölle. Aus der Tiefe steigt Luzifer empor, ein finsterer Riese, vollkommen schwarz geschminkt. Ein Liebespaar schwebt durch die Lüfte, greift und sucht Halt aneinander – und faßt ins Leere.

Die göttliche Komödie des Tomas Pandur – keine ehrfürchtige Umsetzung des kosmischen Gedichtes, sondern eine böse Aktualisierung der dichterischen Höllenfahrt, deren bildnerischer Reichtum überwältigend ist. Taub vom Lärm und blind vor Bildern, wankt man aus der Vorstellung – und fragt sich leise, warum sich das Stadttheater einer mittelgroßen slowenischen Kommune wie Maribor einen derart höllischen Aufwand leisten kann. Und nicht die Stadt- und Staatstheater... Na ja, lassen wir das. Manchmal können Reisen in die Provinz so hungrig machen.

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