: Und draußen rauscht das Leben vorbei
■ Stuttgarter Reality-Theater: Ein Feuilletonchef als verhinderter Stückeschreiber
Wer jeden Tag Maultaschen essen muß, dem schmecken sie bald nicht mehr. Wer jeden Tag ins Theater muß, der hat es bald über.
Klaus B. Harms ist der Feuilletonchef der Stuttgarter Nachrichten und damit oberster Theaterkritiker des Blattes. Als solcher sitzt der 48jährige oft im Stuttgarter Schauspielhaus und ärgert sich. Nix Tiefgang, nix Unterhaltung mehr auf der Bühne, nur noch seichtes Mittelmaß. Harms kam auf die rettende Idee, dem Elend ein Ende zu machen. Er schrieb selbst ein Theaterstück: „Alles Theater.“ Das Stück befaßt sich mit dem Niedergang der deutschen Schauspielhäuser. Zitat: „Draußen rauscht das Leben vorbei, und drinnen tönt das große Schweigen.“
So ein Stück wollte der Kritiker immer schon mal sehen, warum es also nicht gleich selber schreiben?! Sein Erstlingswerk (unter dem Pseudonym Victor Lui Abendrot) reichte er dem Stuttgarter Schauspieldirektor Friedrich Schirmer weiter in der Hoffnung, der würde es bald spielen. Eine gute Kritik wäre ihm endlich sicher gewesen.
Was macht man aber als Schauspielhauschef mit dem Text eines Kritikers, dessen Artikel nicht unwesentlich über Erfolg oder Mißerfolg des Hauses entscheiden? Der Herr Direktor formuliert das heute so: „Ich kann doch nicht zu einem Feuilletonchef sagen: Ich finde Ihr Stück Scheiße!“ Also wandte er sich und gab das Manuskript höflich zurück.
Das hätte er nicht tun dürfen. Seither sind die Kritiken des Kritikers noch kritischer geworden. Kein gutes Haar läßt Harms mehr an der Stuttgarter Bühne: Keine Schauspieler, sondern Statisten stünden dort auf der Bühne, und der Chef ? – ein „Zirkusdirektor!“
Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschrieben. Der 34jährige Dramaturg und Stückeschreiber am Stuttgarter Schauspielhaus, Andreas Marber, dreht den Spieß um. Er schrieb ein Theaterstück, in dem Klaus B. Harms unter seinem echten Namen eine wichtige Nebenrolle zugeteilt bekam: die des skrupellosen Kritikers, „der bedenkenlos auf der Klaviatur von Machtverhältnissen spielt“ (Marber). Zitat aus Marbers Stück, das den Titel „Die Lügen der Pagageien“ trägt: „... der möchte immer Klaus A. Harms sein, hat's aber nur bis Klaus B. geschafft.“
Nun lag also ein zweites Theaterstück auf dem Schreibtisch des Schauspielhausdirektors, und auch diesmal konnte sich Friedrich Schirmer ausmalen, wie wohl der Kritiker Harms reagieren würde. Kurzum: Das Marber-Stück wird nicht in Stuttgart, sondern im November in Bochum gespielt. Dort kennt man Harms nicht, dort kennt kaum einer Marber, und den Kritikern der dortigen Westdeutschen Allgemeinen Zeitung wird's hoffentlich gut gefallen.
In Stuttgart dagegen setzt sich das Theater wohl im Gerichtssaal fort. Denn Kritiker Harms droht jedem mit juristischen Schritten, der behauptet, er habe sein Theaterstück dem Stuttgarter Schauspielhaus angedient. Daß er zudem gegen das Stück Marbers gerichtlich zu Felde ziehen wird, ist auch nicht auszuschließen. Andererseits droht der Verlag von Marber jedem mit einer Klage, der weiterhin aus dem noch nicht veröffentlichten Werk des Autors zitiert. Gleichzeitig prüft der Kritiker der Südwest-Presse und von Theater heute, Christoph Müller, ob er den Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Gerhard Stadelmaier, verklagen soll. Müller hatte den Stuttgarter Theaterskandal als erster gerochen und unter dem Siegel der Verschwiegenheit seinem Frankfurter Kollegen erzählt (der dann alles der Konkurrenz ausplauderte). Stoff genug also für ein neues Theaterstück. Ein Schreiber wird wohl schnell gefunden sein. Doch wer wird es spielen? Philipp Maußhardt
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