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Ein Mann allein kann alles!

Who the fuck is Sammer? Wie Stefan Effenberg den Tag des Möchengladbacher 3:0-Pokalfinalsiegs gegen Wolfsburg zu seinem Tag machte und nun auf jenem Platz sich eingefunden hat, auf dem einst Günter Netzer stand  ■ Aus Berlin Peter Unfried

Es sind in Berlin Samstag eine Handvoll Bilder geschaffen worden, die bleiben werden. Und es ist alles andere als ein Zufall, daß sie immer denselben Protagonisten zeigen. Ein Bild: Wie die Gladbacher die Stufen des Olympiastadions erklimmen, wie freudig den blassen Chargen applaudiert wird, wie plötzlich eine Mütze durch die Lüfte schwebt, wie unser Mann den Pokal stemmt, wie die 80.000 verzückt in Ekstase geraten, wie die geheime Dramaturgie, auf die so offensichtlich alles hinauszulaufen hatte, auf ihrem emotionalen Höhepunkt ward.

Ein zweites Bild: Ein Gesicht auf der Stadionleinwand, bildschirmfüllend zeigt es die Anstrengung von neunzig Minuten standen, gemischt, gepaart mit jener ultimativen Befriedigung, die eine seltene Gesichtslandschaft entstehen läßt. Es war dies ein Gesicht, daß die Menge befreit jauchzen machte und doch geduckt zurückließ, da darin wieder einmal zu lesen stand: Einer allein kann alles!

So ist also der Tag des DFB-Pokalfinals zu einer einzigen großen Inszenierung geworden. Der einzigen der Branche, die real mit den medial inszenierten noch mithalten kann und jene gar weit zu übertreffen vermag. Jenseits aller qualitativen Kriterien, versteht sich.

Ein Hörspiel: Zum Aufwärmen erklingt die Neuversion des Smokie-Klassikers „Living next door to Alice“, um der randvollen Arena die (freudig ergriffene) Chance zu eröffnen, „who the fuck is Alice“ mitzugrölen. Die Atmosphäre, solcher- und andererart geschaffen, ist seltsam grundlos euphorisch, und es ist klar, daß die geweckten Sehnsüchte durch das folgende Spiel kaum zu befriedigen sind. Darum reden wir hier auch nicht davon, daß Wolfsburg schlecht war, Mönchengladbach seriös arbeitete und alles erledigt war, als ein frühes Tor von Dahlin, die zum Angreifen zwang, die das nicht vermochten, und jene verteidigend kontern ließ, die nichts lieber tun. Lieber ein drittes Bild: Wie der Wolfsburger Reich tief in der eigenen Hälfte seinen blonden Gegenspieler tunnelt. Es war klar, daß nur Reich es wagen würde. Es war klar, daß es nur ein Gladbacher sein konnte, den es traf. Es war der Versuch, etwas mitzunehmen aus Berlin. Es war eine Geste ohne jede Bedeutung.

Dagegen dieses vierte Bild: Da breitet ein Mann die Arme zur bewölkten Himmelsdecke, dann läßt er sich auch von den sich ihm nähernden Gehilfen nicht aufhalten. Mit den Händen kündigte er sein Ziel an, dann hüpfte er in die Arme von Manager Rolf Rüßmann. Es war auch dies eine Geste. Diesesmal, so ahnt die Menge, muß eine tiefe Bedeutung dahinterstecken. Es war der Tag, der nun Stefan Effenberg (26) gehören wird, ihm allein. Effenberg nämlich demonstrierte, was er vermag. Und zelebrierte hernach, was ihn bewegt: sich. Aber: Seine Pässe ahnen akkurat jenen Schnittpunkt, der den rennenden Mitspieler mit dem fliegenden Ball eint. Vorn am gegnerischen Strafraum attackiert er den Libero, um Sekunden später in seinem Planquadrat für den Verteidigungsfall angekommen zu sein. Mitte der zweiten Hälfte verfolgt er ohne große Not einen Wolfsburger über das halbe Spielfeld mit der Intensität eines 100m-Läufers, der sich nur auf diesen einen Weg vorbereitet hat.

Effenberg sieht Räume, wo keine sind. Er schafft diese Räume mit seinen Pässen, die, während der Ball fliegt, die Situationen grundsätzlich verändern. Visionen mag man das nennen. Oder auch nur Intuitionen.

Ein fünftes Bild: Da standen grün beschalt die alten Pokalhelden der Borussia, darunter jener Stürmer, der im Finale vor 22 Jahren den Ball in der ersten Minute an den Kölner Pfosten gedonnert hatte. Wer hat ihn erkannt? Sie haben ihre Namen verloren mit der Zeit. Hundert Meter Luftlinie von ihnen aber prangte das Plakat: Günter Netzer 1973!

Netzer lebt, und jenem Tor damals verdankt er es mit. Doch weitreichender als der hat Effenberg diesmal das Spiel zu seinem gemacht. Und hatte, das sagen regelmäßige Beobachter, längst nicht seinen besten Tag. Effenberg, das ist der Schlüssel zu seinem staunenmachenden Spiel: Macht nicht alles, aber alles im richtigen Moment. Effenberg kommt aus der, jaja, es ist halt wahr und muß darum gesagt werden dürfen: T-I-E-F-E! Und ist darum nicht zu bremsen, weil er alles selbst bestimmen kann.

Achtung: Es geht hier nicht darum, ob einer ein Arschloch ist oder gegebenenfalls doch nicht. Darum ging es auch bei Lothar Matthäus nie. Es geht um das Spiel, dessen Anforderungen Mitte der 90er, und daß es keinen gibt weit und breit, der ihnen annähernd so gerecht würde. Dem Bundestrainer Vogts gilt Matthias Sammer als der beste deutsche Kicker. Who the fuck is Sammer? Effenberg ist der bessere Sammer, und nur er, sonst keiner, kann der Fußballer des Jahres sein.

Und: Im Gegensatz zu dem verkniffen jeglicher wahrer Lust entsagenden und statt dessen (auch das kein Zufall!) mit Roland Kaiser sublimierenden Sammer, geht Effenberg in den populären Riten des Spiels auf: Er zelebriert sie! Einen nach dem anderen. Wo Sammer, wie einst Netzer, sich ausschloß, paßt Effenberg sich an, genügt und huldigt inmitten seiner gigantischen Egozentrik dem Kollektiv.

Ein sechstes Bild: Als alle anderen Gladbacher längst froh und nichtssagend die Kabine verlassen haben, sieht man durch die kurzzeitig geöffnete Tür einen Blonden aus der Dursche kommen, bekleidet allein mit Handtuch und Zigarette. Ein Aufschrei folgt ihm: Marlboro! Ja, Marlboro!

Und ein siebtes, letztes Bild, auch das wird bleiben, wie nun der Name Effenberg in der zum Vergrößern neigenden Historie des Spiels: Das Mannschaftsfoto des Pokalsiegers Borussia Mönchengladbach 1995. Hinten links steht Stefan Effenberg. Es wird keinen überraschen zu erfahren, daß exakt an jener Stelle sich dereinst auch Günter Netzer seinen Platz ausbedungen hatte.

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