piwik no script img

Andocken im „duftenden Hafen“

Hongkongs Daseinszweck ist das Geschäftemachen. Mit einem Minimum an Platz wird hier ein Maximum an Profit erwirtschaftet, und die Migranten wollen natürlich mitverdienen  ■ Von Robert Kaltenbrunner

Hongkong ist die Stadt der Paradoxe. Äußerster Luxus und elendste Armut sind durch den gleichen Straßenstrang verbunden. Längst hätte die Stadt, versichert jeder Kenner, sich durch Migration und ungebremstes Wirtschaften selbst zerstören müssen. Das Bild der Kronkolonie ist zwiespältig: den einen gilt sie als neumodische Variante eines Manchester-Kapitalismus, den anderen als Vorposten eines kommunistischen Chinas. Alle aber glauben an ihre Zukunft, die Eingewanderten ebenso wie die Alteingesessenen. An die Parole „one country – two systems“ aber gewöhnt man sich nur notgedrungen. Ähnlich verhält es sich mit der Demokratie-Diskussion der jüngsten Vergangenheit. Wer mag schon an politische Mitbestimmung glauben, wenn die KP Chinas bereits an die Tür klopft. Außerdem gibt es eine gar seltsame Allianz, denn weder Wirtschaftsbosse noch Politbüro wollen „mehr Demokratie wagen“.

Gerade das allerdings macht nun aus der Einwandererstadt Hongkong eine Emigrantenkolonie. Alle, die es sich leisten können, versuchen, sich rechtzeitig eine neue Existenz zu sichern, meist in Kanada oder Australien. Neuerdings gibt es auch ausgeprägte Kontakte mit Ecuador und Kolumbien. Doch es gibt auch den Gegentrend: Die früheren Immigranten, gerade ausgewandert, kehren in Scharen zurück. In Hongkong, was übersetzt soviel wie „duftender Hafen“ heißt, läßt sich eben immer noch eine schnelle Mark machen.

Doch gleichgültig, ob man nun mangels Möglichkeiten bleiben muß oder auf Zeit zurückgekommen ist: sie alle haben gelernt, „an einem geborgten Ort von geborgter Zeit zu leben“, wie es die Schriftstellerin Han Suyin beschrieb. Sicherlich gründet sich die Stadt auf ihr wirtschaftliches Potential, das heißt ihren Überseehafen und ihre geographische Position an der Pforte zu China.

Hongkongs Daseinszweck war von Anfang an das Geschäftemachen – ob nun legal oder nicht –, und davon wußten auch viele Chinesen zu profitieren, die ihrer traditionsverhafteten und von einer Krise in die nächste schliddernden Heimat den Rücken kehrten und sich hier schon bald nach der Gründung niederzulassen begannen. Dabei fehlten dem Fischerdorf unter dem Wendekreis des Krebses für diese Erfolgsstory zunächst alle Voraussetzungen. Als die Briten die Insel 1841 in Beschlag nahmen, planten sie lediglich einen Stützpunkt, keine Großstadt. Die Absatzmärkte für das indische Opium, mit dem sie China überschwemmten, begann erst in der Gegend von Kanton, mehr als 100 Kilometer entfernt. Mittlerweile ist die Stadt zum Inbegriff dafür geworden, wie mit einem Minimum an Platz ein Maximum an Umsatz erwirtschaftet wird. Der Mensch darin ist lediglich Verfügungsmasse. Work hard, eat well, gamble high ist die Devise Hongkongs. Zumindest gibt sich dieser Lebensmaxime jeder echte Hongkonger hin, ob reich oder arm. Schier erdrückend ist die schroffe Gegensätzlichkeit, die sowohl in der Topographie als auch in der Verteilung des Wohlstandes zum Ausdruck kommt, verblüffend die Geschäftigkeit und Effektivität, mit der in der britischen Kolonie das chinesische Leben abläuft. Eine Stadt, in der selbst der weltgewandteste Europäer sich mitunter hoffnungslos antiquiert und altmodisch empfindet.

Dieses metropolitane Flair ist die eine Seite der Medaille. Die andere wird von einem Phänomen geprägt, für das die walled city ein beredtes Beispiel gibt. Walled city war eine Exklave mitten in Hongkong, eine wuchernde Gebäudemasse von etwa 200 mal 100 Metern, durchschnitten, gefräst von einem Gewirr an schluchtartigen Gassen, in denen sich der Fremde verlor wie im Labyrinth. Obwohl in Kowloon gelegen, blieb sie jedoch chinesisches Territorium, unterlag also nicht der britischen Rechtsprechung. Eben deswegen brandeten die Flüchtlingswellen nach 1949 hierher. Ohne Jurisdiktion und ohne Kontrolle von außen entwickelte sich die walled city zu einer sich selbst regierenden Gemeinschaft, in der Mitte der achtziger Jahre mehr als 35.000 Menschen lebten. Vor allem in den Sechzigern war sie berüchtigt als Hort von Prostitution und Drogendealern. Die „Stadt der Dunkelheit“ war den Behörden seit jeher ein Dorn im Auge.

Unbeeinflußt von der Stadtverwaltung konnten illegale Migranten aus China sich hier eine neue Existenz einrichten. Zahnärzte, deren chinesische Zeugnisse in der Kronkolonie nicht anerkannt wurden, eröffneten Praxen und Schlachter kleine Kaschemmen unter Bedingungen, die britischen Hygienevorstellungen spotteten. Der Zulauf war rege: diese boten Spezialitäten, die sonst nirgendwo zu bekommen waren, jene behandelten gut, verläßlich und billig.

Erst mit der chinesisch-britischen Vereinbarung 1984 erteilte die Pekinger Regierung die Erlaubnis, die walled city abzureißen, und Ende 1993 war die exterritoriale Insel aus der Karte Kowloons getilgt. Heute begrüßt den Besucher an dieser prominenten Stelle, unweit des Flughafens Kai Tak, eine gähnende, staubige Leere. Einzig das um 1840 errichtete Eingangsbauwerk zum Yamen, der Residenz des örtlichen Machthabers, verblieb auf der nun öden Fläche. Es ist jetzt das einzige materielle Zeugnis für ein Quartier, das wie kein anderes die dynamisch-unkontrollierte Entwicklung der Einwandererstadt verkörperte. Die „Stadt aus Mauern“, die sich ganz und gar vom anderen Hongkong unterschied und ihm doch auch wieder glich, war zunächst Unterschlupf, dann Lebensraum. So unwürdig die walled city auch immer gewesen sein mag – sie gewährte, was alle wollten: Abstand von einer ungeliebten Vergangenheit, Hoffen auf eine bessere Zukunft.

Der Stadtstaat am Perlflußdelta ist ein einzigartiges Gebilde, das in einem politikfreien Raum schwebt, das aber dennoch der Schnittpunkt des Welthandels ist, mittelalterlich chinesisch im Denken und doch pragmatisch modern. Allerorten erahnt man eine kurze, aber bewegte Geschichte. Doch die Gegenwart hat sich ihrer weitgehend entledigt. Wie ein Magnet zieht das prosperierende Hongkong all jene an, die zu Hause entweder ihre Ernährung oder aber ihre politische Mitbestimmung nicht sichern können. Die heutige Stadt ist von Nachbarschaften und Gemeinden übersät, in denen das alte, frühere Leben hartnäckig konserviert wird. Die Shanghaier bleiben unter sich, genauso wie jene, die aus Fujian stammen, der Gegend um Amoy. Einwanderer aus Kanton und der Provinz Guangdong versuchen die gleichen kulturellen und – was noch wichtiger ist – die gleichen sprachlichen Wurzeln zu betonen; für sie ist naturgemäß die Integration am einfachsten, zugleich aber das Konkurrenzverhältnis zu den hier beheimateten Nachbarn auch am ausgeprägtesten. Daneben gibt es Inder und Pakistanis, Malaien und Koreaner, philippinische Hausangestellte und japanische Manager, Afrikaner und eine Vielzahl von Europäern und Nordamerikanern, unter denen naturgemäß die Briten die größten Kontingente stellen.

Die fremde Umgebung läßt den Migranten nicht nur heftig an den Traditionen seiner Heimat festhalten; die Geborgenheit von vertrauter Sprache, Küche, Verhaltensform, Familienorganisation sichert das Selbstbewußtsein, das in der Begegnung mit der neuen Welt täglich Stöße erhält. Ähnliches gilt, sieht man einmal ab von Central, dem Hochglanzbezirk, für die Stadt der Arbeit: Mehr als andernorts siedelt hier das Gewerbe unter sich in einem beinah mittelalterlichen Gildengeist. So wird ein unvermutetes Nebeneinander zum Charakteristikum der Stadt.

Auch wenn die Wohnboote chinesischer Flüchtlinge vor Aberdeen nun mehr und mehr verschwinden und die vietnamesischen Boat people in abseits gelegenen Lagern eingesperrt sind: die

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Einwanderer sind so prägend für den öffentlichen Raum. Sie nahmen das unausgesprochene Integrationsangebot an. In einem vitalen Prozeß besetzten sie frei werdende Bereiche, eröffneten Läden, Restaurants, Dienstleistungsunternehmen. Allerdings war das auch verhältnismäßig einfach, wenn man unterstellt, daß die meisten von ihnen – aus China oder Taiwan kommend – einen vergleichbaren kulturellen Hintergrund haben wie die Hongkonger. Anders dagegen die Commonwealth-Migranten, deren Integration allenfalls eine wirtschaftliche ist.

Man lebt nebeneinanderher, ohne größere Konflikte. Bezeichnend hierfür ist auch die Kommunikation: Der Zusammenhalt des Großteils wird mittels der chinesischen Sprache verdeutlicht, die anderen bleiben außen vor und verständigen sich behelfsmäßig in Englisch.

Mildernd kommt jedoch hinzu, daß sie dieses Schicksal mit den Eliten des Westens teilen. Dafür aber haben diese das Privileg, in den luftigen Höhen des peaks oder in midlevels zu leben. Alle anderen drängeln sich in unglaublicher Dichte. Die unansehnlichen Betonskelette ihrer Behausungen scheinen fast auseinanderzubrechen unter dem Druck der Bewohner. Aus den Fenstern stülpt sich das Innenleben ins Freie hinaus. Wie lange Fahnen hängt an Bambusstangen die Wäsche zum Trocknen aus, Fenster für Fenster; von ferne wirken die Wände mit einer stachligen Haut überzogen. Endlos sich auftürmende Fassaden mit den vorgehängten Käfigen summen ein recht elegisches Lied.

Drehscheibe zwischen Ost und West, noch immer und zugleich mehr denn je, aufblühend in letzter Schönheit vor dem Untergang? Am 30. Juni 1997 endet ein Pachtvertrag mit 99 Jahre Laufzeit, dem übrigens der deutsch-chinesische Kiautschou-Vertrag von 1898 als unmittelbares Vorbild diente. Alle sechs Millionen Hongkonger sind dann (volks-)chinesische Staatsbürger, einschließlich der etwa 2,5 Millionen Einwohner mit BDTC- Status (das heißt britische Bürger abhängiger Territorien). Zwar hat die chinesische Regierung sich verpflichtet, das gegenwärtige gesellschaftliche und wirtschaftliche System für die nächsten fünfzig Jahre unverändert beizubehalten. Aber wer glaubt schon daran. Gleichwohl: Bislang hat Hongkong die Unheilpropheten überlebt, ein todgeweihter Goliath, der sich immer wieder aufrafft. Die Neubauten von heute sind die Ruinen von morgen.

Hongkong ist eine Stadt, von der man nie erwartet, daß sie fertig wird. Eine Stadt, wo einerseits die Vergangenheit mißachtet wird und dennoch gläubig die Gesetze des feng-shui beachtet werden. Nach den Gesetzen dieser uralten chinesischen Geomantie werden noch heute die günstigsten Plätze für Gräber, Wohnhäuser und Geschäfte bestimmt. Selbst Börsenspekulanten befragen ihre Wahrsager. Schließlich geht es um Erfolg – und um Heimat. Das gilt auch für die Einwanderer, und für sie ist die Kronkolonie noch immer eine Verheißung. Offensichtlich hat Hongkong Übung darin, mit Kassandrarufen zu leben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen