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Noten sind Nebensache

■ Heute gibt es in den Berliner Schulen Zeugnisse, eine Ausnahme macht nur die Freie Schule in der Ufa-Fabrik / Sorgentelefone für Zeugnispanik kaum noch gefragt

„Cola und Fanta gab es, und wir haben viele Spiele gespielt“, erzählt Katarin, 9 Jahre alt, von ihrem letzten Schultag vor den Sommerferien am letzten Freitag. „Zeugnisse gab es nicht.“ Katarin ist Schülerin der Freien Schule in der Tempelhofer Ufa-Fabrik. Wenn andere Kinder bangend auf die Zeugnisausgabe warten, feiern die 45 Schüler der Freien Schule mit Ehemaligen, Lehrern und Eltern ein Abschlußfest. Hier bewerten die Lehrer nicht, sie schicken ihre Zöglinge ohne Kommentar in die Sommerferien. Das Wort „Versetzung“ ist ein Fremdwort.

Die Freie Schule ist das einzige staatlich anerkannte Projekt in Berlin, in dem die Kinder während der ersten sechs Schuljahre überhaupt nicht beurteilt werden. Selbst Waldorf- und Montessori- Schulen schreiben verbale Bewertungen. „Ich will auch keine Noten“, sagt ein älterer Schüler der Freien Schule. „Dann brauch' ich keine Panik zu haben.“ Die Kinder wollten alle keine Noten, berichtet Kirsten Papke, Mutter einer Schülerin und eines ehemaligen Schülers in dem zeugnisfreien Projekt. Ihre siebenjährige Tocher Franceska weiß nicht einmal, was ein Zeugnis überhaupt ist. „Mir sagen die Lehrer so, ob das gut ist, was ich mache“, erzählt sie.

Motiviert werden die Kinder in der Ufa-Fabrik nicht durch gute oder schlechte Zensuren, sondern durch praktische Anreize. Um Rechnen zu lernen, gehen sie beispielsweise in einer Gruppe einkaufen. Diejenigen, die noch nicht überprüfen können, ob sie vom Verkäufer beim Wechselgeld beschummelt worden sind, ärgern sich spätestens dann und wollen Rechnen lernen. Die Kinder entwickeln auch ohne Noten Ehrgeiz: „Wir wollen alle eine gute Abschlußbewertung kriegen und die Gymnasialempfehlung“, erzählt ein älterer Schüler. Die Abschlußbewertung nach sechs Jahren Freier Schule ist die einzige Beurteilung der Lehrer.

Ob Noten vergeben werden oder nicht, hält Dietmar Reith vom schulpsychologischen Dienst in Neukölln für nebensächlich. „Das wichtigste ist, die Schüler zu motivieren. Das kann ganz unterschiedlich aussehen“, so Reith. Bei einigen Schülern würden sogar schlechte Noten einen Lernanreiz schaffen. In Neukölln greifen immer mehr Lehrer auf die Möglichkeit der sogenannten verbalen Beurteilung zurück. „In diesen Beurteilungen werden die Lernfortschritte in den Mittelpunkt gestellt. Das ist viel individueller als bei der starren Zensurenvergabe“, erklärt Reith. Dadurch, daß die Beurteilungen nicht so vergleichbar sind wie Zeugnisnoten, entsteht bei den Kindern weniger Konkurrenz.

Die Zeiten, in denen die Zeugnisvergabe zu regelrechten Panikwellen geführt hat, gehören nach Reiths Erfahrung allerdings der Vergangenheit an. „Die Zeugnissorgentelefone der Bezirke werden kaum noch genutzt“, so der Neuköllner Psychologe.

Ähnliche Erfahrungen macht auch sein Kollege Rainer Füllert. In seiner dreijährigen Tätigkeit in Zehlendorf hat Füllert allerdings festgestellt, daß nicht alle Kinder mit verbalen Beurteilungen glücklich sind. „Es gibt viele Kinder, die sich gerne vergleichen wollen“, meint er. Die Konkurrenz unter den Kindern hält er für unproblematisch, solange von den Eltern kein Leistungsdruck ausgeübt wird. Bis zur dritten Klasse, so Füllert, würden die Eltern viel Wert darauf legen, daß spielerisch mit den Kindern gelernt wird. Ab der vierten Klasse dagegen würde der Leistungsaspekt wesentlich stärker in den Vordergrund gestellt. „Es ist keine Seltenheit, daß Eltern bei den Lehrern auftauchen und ein schnelleres Unterrichtstempo fordern, weil die Parallelklasse im Englischlehrbuch zwei Seiten mehr durchgearbeitet hat“.

Über diesen Leistungsstreß schütteln die antiautoritären Eltern nur den Kopf: Wenn Sebastian, der dreizehnjährige Sohn von Kirsten Papke, nach sechs Jahren Freier Schule jetzt in der Regelschule ein Fünf bekommt, grinst er nur. „Tja, da hat der Lehrer eben Pech gehabt“. Nina Kaden/Gesa Schulz

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