■ Uni, Bafög & Co.: Die Rache der Eliten
Wie soll man sich das Mißverhältnis eigentlich erklären? Keine Sonntagsrede, die über den Standort Deutschland in Zeiten der Globalisierung schwadroniert, läßt das Bekenntnis zur Bildung aus. Vor allem an ihr hänge die Zukunft. Tatsächlich aber ist in den vergangenen 15 Jahren der Anteil der Hochschulen am Sozialprodukt der alten Bundesrepublik um 30 Prozent gesunken.
Den StudentInnen geht es nicht besser als ihren Anstalten. Kaum noch 25 Prozent im alten Westen bekommen überhaupt Bafög – im neuen Osten sind es 65 Prozent –, nur wenige erhalten den Höchstsatz. Seit das Gesetz zuletzt novelliert wurde, ist der Kaufkraftverlust größer als die geplante Anpassung des Staatsstipendiums an Inflation und Lebenshaltungskosten. Von Bafög-Erhöhungen kann also keine Rede sein. Inzwischen finanzieren die Ehemaligen jede dritte Bafög-Mark durch die Rückzahlung ihrer Stipendien, die zur Hälfte Kredit sind.
Aber mehr noch als der fiskalische Schwund wiegt an deutschen Hochschulen der mentale. 80 Prozent der Studis beklagen, im Laufe ihres Studiums nicht ein einziges eingehendes Gespräch mit einem Hochschullehrer gehabt zu haben. Indessen wird im ausgehenden Industriezeitalter allerorts der subjektive Faktor entdeckt: das Maschinensystem sei weitgehend ausgereizt, nun komme es auf kreative Menschen an. Ausgerechnet Hochschulen werden Lernfabriken, in denen Studis den Mut verlieren, ihren Mund aufzumachen. Diplomiert, trauen sie sich weniger im eigenen Kopf zu denken als beim Eintritt in die Alma Mater.
So üben sich bald zwei Millionen StudentInnen darin, „Scheine zu erschlagen“. Wohl wissend, daß die Zertifikate der Unis keine Fahrscheine mehr für Züge ins Leben sind und allenfalls noch als Bahnsteigkarten taugen. Dennoch klammern sich die Unis an das einzige, was ihnen sicher scheint: den Stoff. Der wird gepaukt, geprüft und vergessen. Und dann wundern sich Professoren, daß die Studis nach den Kuren von Input und Output nur noch Putput machen und klagen über eine mut- und phantasielose Generation.
Dabei hilft das sogenannte Wissen immer weniger. „In meinem Fach kann ich mit einem sechs Jahre alten Lehrbuch nichts mehr anfangen, so schnell hat sich die Forschungsfront verändert“, sagt achselzuckend Gerhard Neuweiler, Biologieprofessor in München. Bis vor einem Jahr war er Vorsitzender des Wissenschaftsrates. StudentInnen müßten sich also im Lernen und Denken, nicht aber im Kopieren und Pauken üben. „Ihr Wissen darf und muß unvollkommen bleiben, deshalb müssen sie miteinander ins Gespräch kommen.“ Aber diese Mischung aus selbständiger Arbeit, Gespräch und Unterstützung durch LehrerInnen, die Lust und Zeit zum Dialog haben, gelingt deutschen Hochschulen immer weniger. Anzeichen für Änderungen sind nicht in Sicht. Warum nur machen Lehrende und Lernende diesen Zirkus noch mit, warum gehen sie nicht auf die Straße? Die meisten Studierenden und viele Lehrende machen schon längst nicht mehr mit. Sie tun nur so. Protest wäre ja ein Appell, der nur Sinn macht, wenn man an die Adresse der Rebellion noch glaubt. So naiv sind heute nur noch wenige.
Sind diese Hochschulen noch zu retten? Dieter Simon, Neuweilers Vorgänger als Vorsitzender des Wissenschaftsrates, meint nein: „Die Hochschulen sind im Kern marode.“ Und weil sich niemand an die Erneuerung von Grund auf wagt, hat sogar die finanzielle Auszehrung eine gewisse Logik. Der Soziologe Ulrich Beck will denn auch die Unis nur noch als paradoxes Initiationsritual einer ratlosen Gesellschaft interpretieren, „der es gar nicht um Lehren und Lernen geht, sondern darum, die Widerstandsfähigkeit angesichts eines bestimmten Quantums an Widersprüchen zu ermitteln; wer überlebt ist elitefähig“.
Nach dieser Maxime scheinen Politiker und Bürokraten zu verfahren, die im vertrauten Gespräch zugeben: „Wissense, ob wir eine Milliarde mehr oder weniger in die Unis pumpen, ist doch egal. Was wir geworden sind, sind wir doch alle nicht wegen, sondern trotz unseres Studiums.“ Selbst daran ist mehr wahr, als die hochdotierten Zyniker wissen: Lernen kann man nur selber. Stoff- und Lehrpläne, inklusive der Belehrungs- und Prüfungsrituale, sichern nur den autodidaktischen Prozeß. Diese Autodidaktik zu kultivieren und sie im Gespräch der Lernenden und Forschenden weiterzutreiben, das wäre Aufgabe der Hochschulen. Und den Hochschulen diese Kultur zu ermöglichen, das ist die Aufgabe der Politik. Aber der Kultivierung der Autodidaktik trauen unsere Eliten nicht. Ihre Erfolge schreiben sie ihrer Fähigkeit zu, sich durchgeschlagen und durchgebissen zu haben.
Es gibt in Deutschland einen heimlichen Haß auf Schulen und Hochschulen. Zumeist wurden sie als Anstalten autoritärer oder arroganter Belehrung erfahren, selten wurden sie als Orte lustvollen Lernens erlebt. Bildung kann von so erzogenen Eliten gerade noch ökonomisch als Investition in die Zukunft begründet werden. Aber wenn sich die Zukunft nicht mehr als verbesserte Auflage der Vergangenheit vorstellen läßt, dann fehlt den Zynikern das nötige Selbstvertrauen. Zyniker können die Vergangenheit und die Gegenwart ausbeuten, Zukunft erfinden können sie nicht. Das ist die deutsche Innovationskrise. Nirgendwo zeigt sie sich deutlicher als im Bereich der Bildung.
Während die besseren der amerikanischen Hochschulen sich zu einem großen Teil durch Spenden der Ehemaligen finanzieren, die sich verpflichtet fühlen, die Einrichtung, von der sie empfangen haben, etwas zurückzugeben, hat in Deutschland diese Kultur der Alumni keine Chance. Auch hier gibt man zurück, was man empfangen hat, und das ist oftmals der Tritt.
Lassen sich nicht dennoch aus den Trümmern der Lernfabriken Akademien bauen? Vorerst wandert die Forschung aus den Lernfabriken ebenso aus wie die Advanced Studies, die interdisziplinären Kolloquien und vor allem die Studierenden selber. ProfessorInnen und StudentInnen sind sich darin einig: Das Leben ist anderswo. Das Scheinstudium ist ihnen nur die unvermeidliche Voraussetzung für die kollektive Autodidaktik eines StudentInnenlebens, in dem sich Job, Lektüre, Palaver und schließlich auch der eine oder andere Fund, den sie in der Trümmerlandschaft Uni machen, zum eigenen Leben mischt. Auf die Kreativität des StudentInnenlebens kann man setzen, aber ob sie reicht, jene Abwärtsspirale aufzuhalten, daran darf man zweifeln. In den Charts der Orte mit der größten Geistesabwesenheit nehmen die Hochschulen fraglos noch lange einen der vorderen Plätze ein, wenn dort nicht doch noch eine Kulturrevolution ausbricht.
Reinhard Kahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen