piwik no script img

Die verlorene Ehre des Boris Jelzin

■ Eine satirische Puppensendung im russischen Fernsehen hat sich beim Staatsanwalt unbeliebt gemacht

In England hieß sie „Spitting Image“ und wurde kürzlich abgesetzt, in Rußland ist sie – unter dem Namen „Kukly“ („Puppen“) populärer denn je: die Fernsehsendung, in der prominente Politiker sich selbst als lebensgroße Marionetten auf die Schippe nehmen. Aber wenn zwei das gleiche tun, so ist es nicht dasselbe. Am letzten Freitag war es soweit: Der russische Generalstaatsanwalt eröffnete ein Verfahren wegen Verletzung der Ehre von Präsident Jelzin und Ministerpräsident Tschernomyrdin in der Puppenspielsendung des Privatsenders NTV. Auf „Ehrverletzung“ steht eine Höchststrafe von zwei Jahren „Besserungsarbeiten“. Der Verurteilte wird dabei nicht inhaftiert, muß aber für wenig Geld malochen.

In Rußland sind Grauen und Absurdität heute greifbarer als in den kleinen Staaten des alten Europa. Der fernsehenden Nation stockte der Atem, als am Sonnabend, dem 24. Juni, wie immer seit sieben Monaten, kurz vor elf die kaum zehn Minuten lange Sendung über den Bildschirm flirrte. Diesmal trug sie den Titel: „Sprich doch ein bißchen lauter, Schamil Bassajew!“. Das entsetzliche Geiseldrama von Budjonnowsk hatte uns übernervös gemacht. Nun sahen wir die „Machtminister“, Gratschow und Jerin, die dort bereit gewesen waren, Hunderte von Geiseln zu opfern, wie sie als Pathologen in einem altmodischen, glaskuppelüberdachten Hörsaal tatterig unter Mullbinden herumschnippelten. Sie übten sich, wie nicht schwer zu erraten war, an Leichen – und bisweilen im Walzertakt.

Frische rote Blutspritzer zierten verschwenderisch Gesichter und Kleidung. Ihr „Chefarzt“ Boris Jelzin, gewählt, wie wir erfuhren, von der „demokratischen Versammlung der Schwerkranken“, hielt sich ihrer Unterhaltung zufolge im kanadischen Halifax auf, um auf dem G-7-Gipfel bei den westlichen Staatschefs Mittel für neue, schärfere „Skalpelle“ lockerzumachen. Da kam Ministerpräsident Tschernomyrdins Puppe geradezu schmeichelhaft weg. Ihr Auftritt am Ende der Sendung beschränkte sich auf leisen Telefonflirt mit dem tschetschenischen Freischärler Schamil Bassajew im Jargon von Kolchosvorsitzenden.

„Das Großartigste und das Schrecklichste an unseren Puppenpersönlichkeiten ...“, schrieb Kommentator Pawel Chanin in der liberalen Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta daraufhin, „ist ihre Identität mit den Prototypen. Wenn sich die englische Show über die Königin oder John Major lustig macht, dann lacht der Zuschauer vor allem über die Kunst der Karikatur. Hier ist es anders. Hier wird dir unheimlich zumute, weil du glaubst und weißt, daß sie genauso sind.“

Wie zur Bestätigung dieser These rief Außenminister Andrej Kosyrew am Montag den JournalistInnen zu, die ihn zur OECD-Tagung nach Brüssel verabschiedeten: „Das ist nicht meine Puppe, das bin ich selbst!“

Zur Klage animiert wurde der Generalstaatsanwalt letzte Woche offenbar von einem Artikel in der rechtsnationalen Zeitung Sowjetskaja Rossija. Der Autor ereiferte sich darin über eine Szene in der Sendung vom 8. Juli, die die krasse Minderung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten parodistisch variierte. Die inkriminierte Sequenz lehnt sich im Text an das Vorbild von Maxim Gorkis „Nachtasyl“ an und zeigt die Spitzenpolitiker des Landes grölend beim Besäufnis in einer schmierigen Absteige, wo sie als Penner vom staatlich festgesetzten Minimallohn zu überleben versuchen.

In einer anderen Episode bettelt Präsident Jelzin mit seinem „Baby“, Oberleibwächter Alexander Korschakow, auf dem Arm in der „Elektritschka“, einer Art S- Bahn. Er trägt dabei ein Schild um den Hals: „Wir haben unseren Zug verpaßt.“

Die Staatsanwaltschaft hat sich jetzt die schwierige Aufgabe aufgehalst, den Anteil bestimmter Personen an den „Kukly“-Sendungen zu definieren. Das Team besteht immerhin aus 50 Personen. Allein, um nur eine der Puppen in Bewegung zu versetzen, sind schon zwei Puppenspieler nötig. Zudem wurden Regisseur Vasily Pichul (im Westen bekannt durch seinen Spielfilm „Kleine Vera“), Chef- Puppenmacher Andrej Drosdow und Drehbuchautor Viktor Schenderowitsch zu ihrem Tun auch noch von Außenstehenden angestiftet: der Autor von Shakespeare, Cervantes, Foe und Saltykow Schtschedrin, die aus dem Munde seiner Geschöpfe sprechen – und die beiden Macher von den Vätern der französischen Sendung „Les Guignols de Lenfo“.

In Paris bestellten sie übrigens auch die ersten Puppen, für umgerechnet 9.000 Mark pro Stück. Warum dort? „Weil wir sie ein bißchen weicher und freundlicher zeichnen wollten als die Engländer“, antwortet Drosdow. Das war die gute Absicht ihrer Schöpfer, über die sich dann aber die Puppen, genauso wie die Politiker, hinwegsetzten. Bisher hat man allerdings weder irgendwelche der TV-Programmacher persönlich angeklagt, noch wurden die Puppen verhört. Barbara Kerneck, Moskau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen