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Ja, wo leben sie denn?

Sommerakademie: Zwölf TeilnehmerInnen versuchten, innerhalb von 24 Stunden einen Film über die Generation X zu drehen. Mit dabei war  ■ Gunnar Lützow

Mittwochmorgen, 9.30 Uhr in Halle 3 der Akademie der Künste. Die ersten TeilnehmerInnen des im Rahmen der Sommerakademie von der Ludwigsburger Filmstudentin Britta Stöckle veranstalteten Workshops „Generation X“ trudeln ein und stellen sich vor. Nach dem gemeinsamen Low- budget-Frühstück mit Industrieschrippen, Tip-Käse und Erdbeermarmelade folgt eine kurze Bestandsaufnahme.

Grundlegende Skepsis gegenüber diesem von den Talkshow-Soziologen und selbsternannten Trendforschern schnell aufgegriffenen Etikett ist der Minimalkonsens, auf den sich die zwölf TeilnehmerInnen zwischen 23 und 33 einigen können. Steffen, gelernter Klempner und Erzieher aus Ostberlin, meint trocken: „Das gab's schon immer, daß Leute abgehangen haben und irgendein Studium, eine Ausbildung oder einen Job gemacht haben, ohne zu wissen, warum.“

Auch die Organisatorin Britta Stöckle wundert sich über den Ausverkauf, der im Zeichen des großen X funktioniert. Bald wird deutlich, daß der Versuch, einer gesamten Alterskohorte kokette Rumhängerei vor der großen Erbschaft zu unterstellen, nach Ansicht aller nicht greift. Gen X, stellt die Runde, in der überwiegend junge Leute mit Uni-Vergangenheit und Medien-Ambition versammelt sind, fest, ist eigentlich nur in den oberen Mittelschichten Westdeutschlands ein Thema. Grazyna, die vor vier Jahren aus Polen nach Ludwigsburg kam, um Film zu studieren, auf die Frage, ob die Jugendlichen ihres Herkunftslandes sich Orientierungslosigkeit einfach nicht leisten können: „Ja.“

Generation X? – „Ich gehöre nicht dazu“

Gegen 13 Uhr sind alle technischen Fragen und verschiedene Interviewstrategien ausdiskutiert, die drei Filmteams machen sich mit ihren Videokameras auf den Weg. In den kommenden Stunden werden sie versuchen, in Gesprächen mit Leuten ihres Alters auf der Straße, in Kneipen, vor Boutiquen und zu Hause herauszufinden, was am Gerede über diese Generation dran ist.

Oranienburger Straße, eine Stunde später: Alfa, DFFB-Studentin, Dirk, Filmhochschul-Absolvent, und Steffen verlassen mit geschulterter Kamera den geräumigen Wartburg Tourist und machen sich auf die Suche nach geeigneten Interview-PartnerInnen. Tim, ein abgeklärter 20jähriger Verkäufer im Techno-Shop „DNA“ auf die Eingangsfrage, was er denn von der Generation X denke: „Gehöre ich nicht zu...“ – eine Antwort, die von fast allen kommt, die noch am ehesten in das grobe Suchraster passen würden.

Zwei äußerst distinguiert gekleidete Jurastudenten aus München werden danach vor dem gegenüberliegenden Burger-King- Restaurant eiskalt beim Herunterwürgen eines Doppelwhoppers mit Käse erwischt und wissen nicht genau, ob sie nun Sinn oder Unsinn von sich geben sollen und wo da der Unterschied ist. Immerhin wissen sie, was sie wollen: In der Sonne liegen, Unternehmensberater werden und Maßhemden tragen – zumindest eine Laufbahn als Beavis-und-Butthead-Doubles für Reiche ist ihnen sicher.

Nach zwei weiteren Interviews vor dem Szeneladen „Obst und Gemüse“ gegenüber dem Tacheles geht es in Richtung Hackescher Markt, wo in schicken Geschäften kanadische Holzfällerschuhe für 300 Mark das Paar an die hippen Kids aus der Dancefloor-Szene verkauft werden. Dort nimmt das Interview des Tages seinen Lauf: zwei supercoole „Megababes“ aus den Generationen Y (20) und Z (15) philosophieren kichernd über die Annehmlichkeiten einer Model-Karriere, während hinter ihnen ein Obdachloser in einer Hauseinfahrt liegend deliriert.

Nächster Anlaufpunkt ist die Gegend um den Wasserturm in Prenzlauer Berg, wo fünf Cafés in einer Reihe jeden Studenten und jede Studentin nach seiner und ihrer Façon selig machen. Im „Anita Wronski“, das neuerdings aus Protest gegen Chiracs Nuklearwahn französischen Wein von der Getränkeliste gestrichen hat, spielt die lokale Publizistik-Prominenz Romanisches Café.

Andere sagen: Boy- kottiert den Boykott!

Sowohl Sebastian Lütgert als auch Arne Höcker, die zusammen unter anderem als Krankenpfleger in den „Medienpolitischen Ambulanzen“ tätig sind, geben bereitwillig Auskunft – um an dieser Stelle aus einem Song der Hamburger Band „Tocotronic“ zu zitieren – zur Lage der Nation und zur Degeneration ihrer Generation, zur Unentschlossenheit der Jugend und zur Verdrossenheit der Tugend. Sie rauchen weiterhin Gauloises Blondes, ihre Message an den Rest der Welt ist: Boykottiert den Boykott!

Mit insgesamt zehn Interviews im Kasten verlassen die rasenden ReporterInnen um 18 Uhr den Prenzlauer Berg, kaufen noch schnell Notverpflegung für die lange Nacht im nächstgelegenen Supermarkt und erreichen um 19.30 Uhr den Ort, an dem in einer Nachtschicht aus fünf Stunden Rohmaterial 20 Minuten vorzeigbarer Film werden sollen.

Die erste Sichtung des Materials um 20 Uhr fördert nicht nur Begeisterndes zutage: Tontechnische Schwierigkeiten und eine defekte Kassette lassen die Ausbeute ein wenig zusammenschmelzen, aber dennoch bleibt mehr als genug übrig. Dreißig Minuten später sind auch die anderen Gruppen eingetroffen. Eine war bei der HipHop- Crossover-Band „Bindemittel“ zu Gast, die mit „Fuck Generation X“ den Song schlechthin zum Thema im Repertoire hat und für das Filmteam sowohl eine akustische als auch eine A-capella-Version einspielte.

Die Resultate der sechs halbstündigen Interviews ergeben ein deutlich differenzierteres Bild als die kurzen Dialoge auf der Straße. Obwohl alle Befragten eigene Lebensmuster entwickelt haben und sich nicht mit der ihnen zugeschriebenen Generation X identifizieren würden, bleibt ein kleinster gemeinsamer Nenner: Freundschaft und Wahlverwandtschaften haben bei allen Befragten auf der Werteskala den Platz der Familie eingenommen.

Nach Mitternacht kehrt ein wenig Ruhe ein, die nächsten vier Stunden vergehen wie in Zeitlupe. Und trotz erster Ermüdungserscheinungen bleiben immerhin acht der zwölf TeilnehmerInnen dabei. Jetzt gilt es, neben den selbstproduzierten Interviews stapelweise Material zu sichten. Das Nirvana-Video ist zwar da, aber wann spielen sie endlich „Smells Like Teen Spirit“? Die Tocotronic-CD ist nicht gekommen, doch zum Glück gab es „Simple Men“ von Hal Hartley in der Videothek.

Am Point of no return wird sogar ohne Rücksicht auf die Schmerzgrenzen ästhetischer Empfindung ein schneller Blick durch die halbe Stunde Viva geworfen, inklusive Stefan Raab als Jürgen Drews. Als sich der Himmel über Berlin langsam bläulich färbt, ist es 4 Uhr morgens und höchste Zeit, in den Schneideraum zu wechseln und die endgültige Fassung zusammenzubasteln. Eine Stunde später ist es bereits hell, die Reinigungskraft beginnt ihre morgendliche Runde, und die ersten fertig geschnittenen Szenen zeigen, daß das Konzept aufgeht.

Um 7 Uhr wird dann klar, daß es trotz verschärfter Anstrengungen aller Beteiligten nicht gelingen kann, die angepeilte Länge zu erreichen. Dennoch sind die bis jetzt vorliegenden acht wilden Minuten mit dem Titel „Fuck Generation X?“ um einiges interessanter als Klaus Leggewies aktuelles Buch über die „89er“.

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