„Nur nicht den Schwung verlieren“

■ Am Sonntag wird in Japan das Oberhaus gewählt

Tokio (taz) – In der Hand ein mit gelbem Frotteetuch umwickeltes Mikrophon, unter seinen Füßen die Kofferbrücke eines Toyota-Minibusses mit 1,5-Liter-Motor, über ihm der im Abendrot erleuchtete Tokioter Stadthimmel: So steht Banri Kaieda auf seinem rollenden Redepodest. Angeblich wollen morgen nur die Hälfte der Japaner an die Urne gehen, doch der galante Kaieda, ein überzeugter Reformer, läßt nicht locker: „Mit dem Parlament, das Sie am Sonntag wählen, muß Japan ins 21. Jahrhundert kommen“, versucht der parteiunabhängige Politiker das Interesse der Pendler vor dem Tokioter Vorstadtbahnhof in Kokubunji zu wecken. Tatsächlich werden bei den anstehenden Parlamentswahlen die Abgeordneten für ein Mandat von sechs Jahren bis ins Jahr 2001 gewählt. Alle drei Jahre wählt Japan so die Hälfte der Abgeordneten des Oberhauses, einer zweiten Parlamentskammer, deren politsches Gewicht dem deutschen Bundesrat vergleichbar ist.

In diesem Jahr ist das Interesse an den Wahlen freilich besonders gering. Weil die Neue Fortschrittspartei, die im Unterhaus stärkste Oppositionskraft, bei den Wahlen vor drei Jahren noch gar nicht angetreten war, läuft die Regierungskoalition aus Liberal- und Sozialdemokraten am Sonntag kaum Gefahr, ihre Mehrheit im Oberhaus zu verlieren.

Dennoch sagen Umfragen schon jetzt voraus, daß die unabhängigen Kandidaten aus dieser Wahl als große Sieger hervorgehen können, denn weniger als 50 Prozent der Japaner fühlen sich heute von einer Partei angesprochen.

Banri Kaieda gründete deshalb in diesem Frühjahr statt einer Partei nur einen losen Bürgerverein. Bei dieser Wahl heißt seine Kandidatin Mieko Kenjo, eine berühmte TV-Moderatorin mit dem leicht angerauhten Charme einer Sabine Christiansen. In ihrer Wahlkampfrede auf dem Bahnhofsplatz geht es um eine gesicherte Altersversorgung, die für viele JapanerInnen ein Traum bleibt, und das Recht auf einen freien „Babytag“.

Keine Partei hat interessante Konzepte

Kenjo und Kaieda bieten dabei mehr als bloße Wahlversprechen: Ihre Reden sind breit angelegt, wollen aufklären und informieren. Das war bislang – bei Linken wie bei Rechten – nie der Fall: Im Wahlkreis ging es nicht um Weltanschauung und Moral, sondern die KandidatInnen brüsteten sich damit, wer aus Tokio die Gelder für eine neue Straße oder ein neues Krankenhaus beschafft hatte. So verläuft auch heute noch der Wahlkampf der Altparteien.

Besonders gefährdet erscheinen dabei die Sozialdemokraten, die mit Tomiichi Murayama seit einem Jahr den Premierminister stellen. Die paradoxe, aber erstaunlich standfeste Koalition mit dem alten liberaldemokratischen Erzfeind hat viele der sozialdemokratischen StammwählerInnen vergrault. Sie nehmen Murayama immer noch übel, daß er pazifistische Grundüberzeugen wie die Ablehnung der Armee und des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrags aufgegeben hat, um an die Macht zu kommen.

Dennoch mag keiner daran glauben, daß Murayama bei sehr schlechtem Abschneiden seiner Partei am Wahlsonntag zurücktritt – zumal die Liberaldemokratische Partei (LDP) keinen geeigneten Ersatzmann bereithält.

Viele JapanerInnen glauben daher, daß diese Wahl eine Übergangsperiode markiert. Vorbei sind die Zeiten, in denen die LDP, die 1993 erstmals seit 38 Jahren ihre absolute Mehrheit im Unterhaus verlor, ungestört allein regieren konnten. Wer aber Japan in Zukunft mit welchem Programm regiert, steht schon deshalb in der Sternen, weil derzeit keine Partei über transparente Führerpersönlichkeiten, geschweige denn ausgearbeitete Konzepte verfügt.

Auch Banri Kaieda gesteht ein, daß er zur Zeit nicht weiß, wie es weitergehen soll. Dabei entgeht dem Volkswirt nicht, in welch kritischer wirtschaftliche Lage zu Beginn einer erneuten Rezession sich Japan heute befindet. Doch Wirtschaftsreformen sind in diesem Wahlkampf kein Thema – Kaieda schüttelt den Kopf. Früher war der politische Quereinsteiger Steuerberater, dann Autor von Finanzberatungsbüchern, die in die Bestsellerlisten aufstiegen, bevor er sich 1992 der damals neugegründeten, doch inzwischen bereits wieder aufgelösten Partei des ehemaligen Premierminister Morihiro Hosokawa anschloß. Daß die Liberaldemokraten vor zwei Jahren stürzten, war auch Kaiedas Werk, der damals wie kein anderer in unzähligen Fernseh-Talkshows die liberaldemokratische Wirtschaftspolitik zerpflückte. „Nur nicht den Schwung verlieren“, sagt er heute und quetscht sich in seinem Toyota-Minibus hinters Steuer. Nächster Termin für seine Rede vom 21. Jahrhundert: das Altersheim von Kokubunji. Georg Blume