: Die verwischten Spuren der Vernunft
Geister sehen und malen: „Okkultismus und Avantgarde – von Munch bis Mondrian“ in Frankfurts Schirn untersucht den Einfluß von Spiritismus auf abstrakte Kunst, in der auch sonst Medien das Bild der Moderne dominieren ■ Von Martin Pesch
Um die Jahrhundertwende tauchen in der bildenden Kunst allerlei Geister auf. Der Symbolismus in der Malerei des Fin de Siècle wimmelt von Gespenstern, und selbst auf Fotografien lassen sich plötzlich unheimliche Schatten entdecken. Ein Zufall der Natur der Dinge oder künstlerische Absicht? Das von Veit Loers und einem ExpertInnen-Team über zwei Jahre erarbeitete Konzept der Frankfurter Ausstellung „Okkultismus und Avantgarde“ geht auf eine ähnliche Grundüberlegung zurück: Die Tendenz zur Gegenstandslosigkeit wurde von einem bisher vernachlässigten kulturellen Phänomen mitbestimmt – dem Okkultismus. Gemeint ist damit die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbreitete Vorliebe für spiritistische Sitzungen und Geisterseherei. Als bloßer Obskurantismus läßt sich nicht abtun, was heute vielleicht albern erscheint und sich in die unterschiedlichsten esoterischen Verzweigungen aufgelöst hat. Und dies in vielerlei Hinsicht.
Wunder aus der Dunkelkammer
Das Interesse am Okkulten verstärkt sich am Ende eines Jahrhunderts, das Wissenschaft und Technik im Umgang mit Natur und Mitmensch zu den bestimmenden Mitteln gemacht hat. Ein Gemeinplatz ist heute, daß dort, wo das Rationale herrscht, auch das Irrationale gedeiht. Das Seltsame am Okkultismus um die Jahrhundertwende war, daß seine AnhängerInnen die Errungenschaften der Rationalität – Röntgenstrahlen, Fotografie, Möglichkeiten der Transportbeschleunigung, Telefon, Tonaufzeichnungen – emphatisch begrüßten. Letztendlich dienten diese Neuerungen als Bestätigung des Glaubens an eine andere, als die wahrnehmbare Realität. Gleichzeitig hatten diese technischen Errungenschaften für deren Verifizierung zu sorgen. Insbesondere die Entstehung der Fotografie ist von dieser Dialektik geprägt. Was sich in der Dunkelkammer abspielte – die Entstehung von etwas aus dem scheinbaren Nichts –, wurde in Analogie gesetzt zur Überzeugung, daß mit ihrer Hilfe auch sichtbar gemacht werden könne, was den Sinnen bisher verschlossen war. So tauchten plötzlich die Geister von Toten auf den Fotos auf; August Strindberg versuchte, indem er über dem Foto seiner Tochter brütete, Einfluß auf ihre Gesundheit zu nehmen, und der Franzose Louis Darget lichtete seinen Zorn ab, indem er sich während eines Wutanfalls eine Fotoplatte vor die Stirn hielt. Hinter all diesen Experimenten stecken natürlich heute verschwundene Vorstellungen davon, wie Realität und ihr Bild miteinander zusammenhängen. Trotzdem wurde das technische Medium ganz pragmatisch eingesetzt, um die Elevation von Tischen oder Geigen während spiritistischer Sitzungen zu beweisen.
Berichte über Erscheinungen und die Möglichkeiten der Fotografie, sie sichtbar zu machen, waren weitverbreitet. Viele bildende Künstler, die durch die Lehren der Theosophie und Anthroposophie schon sensibilisiert waren, sahen darin eine Chance, ihre eigene Arbeit zu überdenken. In den USA geschah dies im Umfeld des Fotografen Alfred Stieglitz, in Deutschland insbesondere mit Kandinsky. Der in diesem Zusammenhang wichtige Begriff der 4. Dimension war auch für die Malerei in Rußland sehr wichtig. Malewitsch, der in dieser Ausstellung mit einigen gegenständlichen und suprematistischen Werken vertreten ist, versuchte etwa mit seinen Gemälden an jenen Ort vorzustoßen, der von den Gesetzen der menschlichen Vernunft wie denen der Naturwissenschaft unabhängig war.
In dieser Konfrontation der Malerei mit neuen technischen Medien steckte natürlich auch die Infragestellung des Künstlers in seiner bislang unangefochteten Rolle des Sehers oder Visionärs. Die Frage, ob fortan das technische Aufzeichnungsgerät oder die Intuition des Künstlers notwendig sei, um das bislang Unsichtbare sichtbar zu machen, war – da zumindest in dieser Ausstellung eine Diskrepanz nicht deutlich wird – scheinbar eingebettet in eine längerfristige Entwicklung. In ihr scheint die Bedeutung des Künstlers als Genie oder Vermittler des Weltgeists schon am Bröckeln gewesen zu sein, als der Ingenieur die Szene betrat. Anders ist die Unvoreingenommenheit nicht nachzuvollziehen, mit der viele der bildenden KünstlerInnen um die Jahrhundertwende auf dem schmalen Grat wandelten, der zwischen Lächerlichkeit und Weiterentwicklung der eigenen Arbeit liegt. Heute, ein knappes Jahrhundert noch ganz anderer technischer Neuerungen später, ist die Emphase verschwunden, die Unsicherheit geblieben. Das muß man – die Kunst wie die Gesellschaft betreffend – als Fortschritt betrachten.
Die Highlights sind von Geistern gemalt
Die Ausstellung ist wohl auch die Verwirklichung eines Traums des Kurators Veit Loers, der demnächst die Leitung des Museums Abteiberg in Mönchengladbach übernimmt. Anders ist die Kraftanstrengung nicht zu erklären, mit der hier über 700 Exponate aus den entlegensten Sammlungen in der ganzen Welt zusammengesucht wurden. Trotzdem erweckt die Veranstaltung nicht den Eindruck, als sei einfach nur geklotzt worden. Zu facettenreich ist das Thema dargestellt (ein nicht kleiner Teil zum Beispiel ist dem Tanz und dem Bemühen um das Gesamtkunstwerk gewidmet). Und zu viel bisher Unbekanntes ist zu sehen, als daß die sogenannten Highlights (Kandinsky, Marc, Mondrian usw.) bestimmend würden. So werden zum Beispiel der bislang im Westen fast unbekannte litauische Künstler Ciurlionis und die Schwedin Hilma af Klint, die als Medium von Geistern malte, vorgestellt. Obwohl die Hängung der Bilder generell der Entwicklung einzelner Künstler oder Künstlergruppen folgt, sind in der chronologischen Ausrichtung einige Brüche eingebaut – in einer Raumecke etwa, in der drei kleinere Gemälde des Russen Anisfeld, des Amerikaners Steichen und des Tschechen Zrzav beieinanderhängen. Die bei derartigen Renommierprojekten nicht seltene Tendenz, mit Siebenmeilenstiefeln die Kunstgeschichte zurechtzurücken und auf Linie zu bringen, wurde hier mit solcherart Details gebrochen. Museumspädagogisch ist man der Hoffnung gefolgt, daß sich die Werke durch ihre Anordnung bezüglich des Ausstellungsthemas selbst erklären; nirgends sind Texttafeln zu finden, nur ab und an ein Zitat oder eine technische Erklärung. Dagegen enthält der monströs ausgefallene, 800seitige und kiloschwere Katalog eine Vielzahl von Aufsätzen zu einzelnen KünstlerInnen oder thematischen Aspekten. Durch ihn wird die Kunstgeschichte nicht umgeschrieben, aber einige bequem gewordene Stühle werden verrückt.
„Okkultismus und Avantgarde“, bis 20. 8., Schirn Frankfurt/Main
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