: Rock meine Religion
Spricht in Zungen, schläft mit Engeln: Neil Young beim einzigen Deutschlandkonzert in der Berliner Waldbühne ■ Von Thomas Groß
Mangelnden Mut zur Selbstdarstellung kann man Neil Young nicht nachsagen. Wer das Puzzle zusammenlegt, aus dem das Textheft zur jüngsten CD „Mirror Ball“ besteht, erhält den Starschnitt einer ebenso entschlossen wie erleuchtet dreinblickenden Verkündigergestalt. Ist es Johannes der Täufer? Charles Mansons Neffe? Am Ende Jesus? Es ist der heilige Neil, der Mann, der mühelos die 22.000 zusammenbringt, die das steil ansteigende Halbrund faßt bei seinem einzigen Deutschlandkonzert. Von Leipzig, Münster, Hamburg, Posemuckel, weiß Gott woher sind sie an diesem Montag abend nach Berlin gekommen. „There's a place called Waldbühne, where the hippies all go.“
Solche (im weitesten Sinne) sind es nämlich, die hier zusammengeströmt sind, und weniger Vertreter der „Gen X“, wie immerhin zu erwarten gewesen wäre. Young, die Musikblätter und Feuilletons haben es in seltener Einmütigkeit in alle Welt hinausposaunt, tritt nicht mit den alten Kameraden Crazy Horse, sondern mit den mehr als 20 Jahre jüngeren Pearl Jam als Begleitband auf – supererfolgreichen Überlebenden Nirvanas in der Erbfolge des „Grunge“, mit denen auch „Mirror Ball“ entstanden ist. Eine Quadratur der Generationen, die zu allerhand Spekulationen Anlaß gegeben hat. Will Young auf seine alten Tage noch einmal mit den jungen Wölfen heulen? Wird der böse Grunge ihn fressen? Oder wird hier einfach nur dem Rock gegeben, was des Rockes ist?
Wer die Bühne beherrscht, ist von Anfang an klar. Die Band, die aus vertraglichen Gründen nicht als Pearl Jam in Erscheinung treten darf (Young ist bei Warner Brothers, PJ bei Sony), agiert zurückhaltend wie eine Schar Ministranten. Sind sie unsicher? Sind sie cool? Zollen sie dem Übervater Tribut? Die kurzen Hosen von Bassist Jeff Ament, eigentlich ein modisches Accessoire aus Funk und MTV, wirken plötzlich wieder wie simple kurze Hosen, wenn der ganz gut im Fleisch stehende Young, in Jeans und Holzfällerhemd gewandet, sich direkt vor ihm an der Gitarre zu schaffen macht. Die Bühne sieht aus wie bei einem Umzug: lauter aufeinandergeschichtete Verstärkerkisten, die man in einer imaginären kalifornischen Scheune aufgestelt hat. Keine Videowände, keine Gimmicks, simpelste Lightshow. Vor einer der Boxen brennt ein Kandelaber mit drei Kerzen – Hippie-Intimität inmitten von Stadionrealität. Rock my Religion. Auf-und- ab-Hopsen zum Selbstgemachten. An den Füßen tragen Ament und Gitarrist Mike McCready Nikes, Young irgend etwas Undefinierbares.
Daß er sich wie ein Prophet auf der Bühne bewegt, kann man nicht gerade behaupten. Eher tapsig läßt Young sich in die Riffs des ersten Sets fallen, alles Songs aus „Mirror Ball“. „Big Green Country“ eröffnet, danach „Song X“ mit seinem shantyartigen, knochenpolternden Refrain – „hey ho, away we go, we're on the road to never“, kompakt wie nur irgendwas. Es ist simpler, ich meine, wirklich simpler Rock 'n' Roll, von kaum einer Arrangement-Idee an seiner eigenen Straightness irre gemacht. Eine Botschaft wie „Throw Your Hatred Down“ ist man geneigt, sogar ein wenig stumpf zu finden – auch wenn hier erstmals die sirrende, unnachahmliche Young-Gitarre zu einem Höhenflug ansetzt. Sind das wirklich starke Lyrics? Ist es der Sänger, nicht das Lied? Wenn Young sich umdreht – was er manchmal tut, wenn er sich dem Schlagzeug von Jack Irons entgegenbäumt –, sieht man am Hinterkopf die Platte.
Auf ein Handzeichen verschwinden die Jungs von Pearl Jam, den akustischen Set mit Young-Klassikern eröffnet die alte Junkie-Moritat „The Needle And The Damage Done“. Ob das gut geht? Und dann spielt er es doch: „Hey Hey My My“, das Stück, das auf dem persönlichen Index gelandet war, weil die Zeilen „It's better to burn out than to fade away“ bei des jungen Kurt Cobains Entschluß, sich die Schrotflinte in den Mund zu setzen, eine Rolle gespielt haben sollen. Bei „The king is gone, but he's not forgotten“ geht ein Ruck durch die Menge, eine Botschaft aus dem oder für das Jenseits wird erwartet, aber Young macht werkgetreu weiter: „This is the story of Johnny Rotten“ – wieso einen König gegen den anderen austauschen, wenn es sowieso weniger um Personen geht als um Stimmen und Stimmungen? Amerikanische Rock 'n' Roll-Lyrics, oft simple Bilder, die um die Mitte des für Young über 35 Jahre praktizierten Lebensentwurfs Rock 'n' Roll kreisen?
In Interviews hat der Epileptiker und rückenkranke Young immer wieder beteuert, daß er die Stücke weniger schreibt als zugefunkt bekommt, und der Rockschreiber Nick Kent hat – sozusagen kongenial – vor Jahr und Tag hinzugefügt: „Es ist fast so, als gebe es ein riesiges Reservoir von Songs, die sich dort droben im Himmel keiner je angehört hatte – und als gebe es in Youngs Hirn eine Zapfstelle, die direkt mit dieser Quelle verbunden ist ...“
Das spielt natürlich schwer ins Religiöse – der Künstler als Medium göttlicher Botschaften, ein Federkiel, der kosmische Weisungen ins Stammbuch des Rock 'n' Roll schreibt. So sind Aufschreibesysteme heute doch gar nicht mehr gepolt! Aufgeklärte Menschen und andere Seminaristen legen sorgenvoll die Stirn in Falten. Doch als Young – jetzt tatsächlich im weißen Priestergewand – am Harmonium „After the Goldrush“ singt, ein Stück, das dunkel von Rittern in Uniform, einer Königin, ausgebrannten Kellern, Mutter Natur auf ihrer Flucht und allem möglichen handelt, kurz: ein Stück, das kein Mensch unter Gottes Sonne je anständig begriffen hat, ist doch etwas von dieser liturgischen Fluchtlinie erkennbar: den Eingebungen von Quäkern, dem In-Zungen-Reden pfingstlernder Siedlergemeinschaften, dem Erlösungswillen fahrender Leute, dem Staub, den Zügen und Raumschiffen, den Science-fiction-Phantasien von B-Movies, der Eschatologie und dem Überlebenswillen des schwer angeschlagenen Rock 'n' Roll, dem Größenwahn von Teenagern und dem absoluten Nicht- loslassen-Können eines total gealterten Kindes, kulminierend in der Zeile: „Flying mother nature's silver seed to a new home in the sun“. Das ist natürlich der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe. Das ist an diesem Abend natürlich das absolut großartigste, süßeste und lyrischste Poem, das mir je zu Ohren gekommen ist.
Von da an sind alle Wechsel gedeckt. Mit den zurückgekehrten Pearl Jam – die ich, wie man wohl gemerkt hat, respektiere, aber überhaupt nicht liebe – spielt Young „I'm the Ocean“. Und ich glaube ihm, was er so dahersingt: daß er der Unterstrom ist, der gegen den Hauptstrom anschwimmt; daß er floatet, weil er nicht am Boden festgemacht ist; daß er mit seinem immer noch vollgetankten Cutlass Supreme auf dem Highway in die verkehrte Richtung fährt; daß „Romance and Candlelight“ bisweilen hilfreich sind; daß er den Sirenen lauscht – „echoing across the beach“. Ich glaube ihm, daß an Peace, Love and Understanding nichts gar zu Komisches dran ist, und ich glaube ihm, daß man den Haß runterfallen lassen soll. Selbst die Zugabe mit dem Gassenhauer „Like a Hurricane“ nehme ich ihm bereitwillig ab. Wandlung und Kommunionsphase sind erreicht. Ich glaube alles. Der ungläubige Thomas darf erst morgen wieder weitermachen.
Vielleicht kann eine Rock 'n' Roll-Show heute kein Leben mehr verändern, vielleicht – ziemlich sicher sogar – ist der Rock heute unter seiner Megaseller-Benutzeroberfläche zu Recht klein und häßlich und seine messianische Kraft gering, aber bei Gott: Dies hier war ein gutes Konzert. Neil Young hat unsere Religion gerockt. Ich glaube ihm sogar, daß er mit Engeln schläft. Im November wird er 50. Long may he run.
Heute: Prag, 18.8. Salzburg, 19.8. Gampel-Festival (Schweiz), 25.8. Pucklepop Festival (Belgien).
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