: „Was es bedeutet, Australier zu sein“
Erst langsam beginnt Australien, sich daran zu gewöhnen, daß es zur asiatisch-pazifischen Region gehört. Zögernd tastet sich das Land an eine Zukunft heran, die zunehmend von asiatischen Immigranten bestimmt wird ■ Aus Sydney Sheila Tefft
Spricht man mit Henry Tsang, dem stellvertretenden Oberbürgermeister von Sydney, dann spürt man etwas von der Unsicherheit, die Australien angesichts einer langsam sich herausbildenden multiethnischen Identität kennzeichnet. Der gebürtige Chinese Tsang, dessen Familie sich nach dem Sieg der Kommunisten 1949 nach Hongkong zurückzog, hat eine angesehene Architekturfirma aufgebaut. Politisches Profil gewann er als Mittler zwischen der weißen Bevölkerungsmehrheit der Stadt und der wachsenden asiatischen Bevölkerung. Er zählt zu den wenigen Asiaten in der australischen Politik, ist Abgeordneter im Bundesparlament und sagt von sich, daß er die ethnischen Grenzen leichter als andere überwinden kann.
„In Australien hat die chinesiche Bevölkerungsgruppe lange Zeit die zweite Geige gespielt. Es wird Zeit, daß wir uns an der Führung beteiligen“, sagt Tsang. „Meine asiatische Herkunft bildet meine Stärke und meine Schwäche zugleich. Weil ich Asiate bin, werde ich die Stimmen der ethnischen Minderheiten erhalten. Aber das ist auch meine Schwäche, weil die weißen Anglos [Australier angelsächsischer Abstammung; d.Red.] mich aufgrund meiner ethnischen Herkunft nicht kennen und mich natürlich auch nicht wählen werden.“
„Man kann hier sehr erfolgreich sein, weil Australien den Multikulturalismus fördert“, sagt Tsang – der vor der australischen Diskriminierung einmal für vier Jahre in die Vereinigten Staaten floh, sich dann jedoch zur Rückkehr entschloß, als sich hier bessere ökonomische Möglichkeiten boten. „Man kann hier seine Kultur wahren, solange man sich als Australier betrachtet.“
In den Phase des industriellen Aufbaus der sechziger Jahre war es der Arbeitskräftemangel, der die rassistische Einwanderungspolitik zusammenbrechen ließ. Heute öffnet Australien seine Tore für asiatische Zuwanderer, weil das Land seine Handelsbeziehungen zu den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern der Region ausbauen, neues Kapital heranziehen und gutausgebildete und hochmotivierte Arbeiter anlocken will. Über ein Viertel der fast 70.000 neuen Einwanderer der Jahre 1993/94 kamen nach amtlichen Angaben aus Asien. In Sydney, wohin es die meisten Neuankömmlinge zieht, ist jeder achte Einwohner entweder in Asien geboren oder hat einen asiatischen Elternteil.
Australien beginnt erst langsam, sich an die großen sozialen Veränderungen zu gewöhnen. Im Rahmen der „neuen Asienpolitik“ der Regierung wurde ein Netz sogenannter Magnetschulen begründet, die Asienkunde in die Lehrpläne aufnehmen und das Studium des Chinesischen, Indonesischen und anderer asiatischer Sprachen fördern sollen.
„Wir sind ein Geheimtip“
Wie die Regierungsbürokratie und die Polizei stellen sich auch die Medien allmählich auf die ethnische Verlagerung ein. Obwohl die herrschende Kultur, die sich an den Vereinigten Staaten und Großbritannien orientiert, mit Asien noch kaum auseinandersetzt, fangen die Filmemacher jetzt an, sich mit asiatischen Themen zu beschäftigen; eine neue Fernsehserie über eine asiatische Einwandererfamilie ist in Arbeit. „Das Bewußtsein nimmt zu, daß wir ein Geheimtip sind... Wir haben Gott sei Dank eine Menge Probleme nicht, die anderen Gesellschaften zu schaffen machen“, meint Peter Thompson, ein Filmkritiker und Filmemacher. „Bei uns herrscht ökonomischer Wohlstand, und wenn die Einwanderung in Zeiten der Prosperität stattfindet, verläuft sie verhältnismäßig schmerzlos.“
Viele Australier aber sind nicht so optimistisch. Sie verbinden das Entstehen neuer asiatischer Stadtviertel mit der Zunahme von Verbrechen und Gewalttaten. Für viele steht Sydneys Vorstadt Cabramatta dafür, was an der neuen Einwanderung falsch läuft. Cabramatta mit seiner Bevölkerung von 71.000 Menschen, von denen mehr als die Hälfte aus Asien eingewandert sind, gilt als asiatische, vor allem vietnamesische Enklave, in der Armut, Arbeitslosgikeit und Drogenkriminalität herrschen.
Die skandalumwitterte Ermordung eines lokalen Parlamentsabgeordneten im September 1994 schockierte das Land und löste Empörung über wachsende Gewaltkriminalität durch asiatische organisierte Banden aus. Da spielte es keine Rolle, daß die Polizei keinerlei Belege für die Theorie erkennen wollte, der Mord habe mit mafiösen Banden zusammengehangen. John Newman, der ermordete Politiker, hatte im Parlament erst wenige Monate zuvor von „asiatischen Banden“ gesprochen, „die Cabramattas Straßen monopolisieren und sogar der Polizei Angst einjagen“.
„Die Politiker laden diese Menschen ein und erwarten, daß sie sich unserer Lebensweise anpassen. Aber das tun sie nicht. Die Menschen ändern nicht ihre Gewohnheiten, nur weil sie eine Grenze überschreiten“, sagt ein Ladenbesitzer in Cabramatta, der mit dem Gedanken spielt, mit seinem Lebensmittelgeschäft in ein anderes Viertel umzuziehen. „Schauen Sie sich doch New York City an. Wir sind auf dem gleichen Gleis. Schauen Sie sich die Zeitungen an und die Namen der Leute, die verhaftet werden. Sie heißen nicht Smith und Jones, das kann ich Ihnen versichern“, fährt er fort.
John Atkinson, ein Sozialarbeiter, der chinesischen Flüchtlingen hilft, hält dagegen: „Die Mehrheit arbeitet schwer, um sich niederzulassen und hier ein neues Leben zu beginnen.“
Zwei Drittel der Einwanderer leben in Sydney und Melbourne. Weil hier die Arbeitslosigkeit relativ hoch ist, löst die Tatsache, daß oft schlecht ausgebildete und wenig verdienende Eiwohner alles daransetzen, weitere Familienangehörige nachzuholen, Ressentiments aus. „Das verursacht uns einige reale Probleme, besonders in Cabramatta, wo wir die Entstehung einer Menge negativer Stereotype und Spannungen zwischen den Vietnamesen und dem Rest der Bevölkerung erleben“, sagt Robert Birrell, Leiter des Zentrums für Bevölkerung und Stadtforschung an der Monash University in Melbourne.
Der australische Konservatismus – und oft unverhüllte Rassismus – hat die Einwanderung seit langem zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht. Anfang dieses Jahres verwehrte Einwanderungsminister Nick Bolkus einigen konservativen und liberalen Regierungskritikern die Teilnahme an einer Bundeseinwanderungskonferenz, wodurch er nach Meinung seiner Gegner eine offene Diskussion der Frage verhindern wollte.
John Howard, der angesehene Oppositionsführer, dürfte sich bei den nächsten nationalen Wahlen als starker Herausforderer für Premierminister Paul Keatings Labour-Regierung erweisen. Aber obwohl er sich entschuldigte und die wachsende asiatische Wählerschaft umwarb, hängt ihm noch immer eine Bemerkung von 1988 nach, als er sagte, die asiatische Einwanderung solle „im Interesse des sozialen Zusammenhalts“ eingeschränkt werden.
Beobachter behaupten, solche Einstellungen seien in antiasiatischen Gefühlen aus dem Zweiten Weltkrieg verwurzelt wie auch in der Überzeugung, Einwanderer sollten für ihr neues Leben dankbar sein, englisch sprechen und sich assimilieren.
Anders als die US-Amerikaner standen weiße Australier noch nie vor der Aufgabe, große nichtweiße Minderheiten zu integrieren; es fehlt ihnen offenbar das Verständnis für die komplexe Dynamik, die in Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien am Werke ist. Ebensowenig wie die meisten US-Amerikaner kennen die weißen Australier die verschiedenen asiatischen Religionen und Kulturen; sie neigen dazu, die Asiaten als homogenes Ganzes zu begreifen. Abwertende Bezeichnungen, die in den fünfziger und sechziger Jahren, als die Einwanderung aus Großbritannien nachließ, für Griechen, Italiener und Libanesen geprägt wurden, sind wieder häufiger zu hören. „Für viele Australier scheint der Begriff Multikulturalismus die Bedeutung zu haben, unsere kulturelle Identität zerfalle, und es werde immer unklarer, was es bedeutet, ein Australier zu sein“, sagt Hugh McKay, der politische Umfragen durchführt und den Wandel kultureller Einstellungen untersucht.
Verfechter einer offenen Einwanderungspolitik verweisen auf Chatswood als ein erfolgreiches Vorzeigeobjekt ethnischer Veränderung. Dort, angelockt von Grundstückspreisen, die im Vergleich mit den explodierenden Bodenpreisen in vielen asiatischen Metropolen niedrig sind, investieren wohlhabende Einwanderer aus Hongkong, Taiwan und anderen Ländern in ausgedehnte Wohnanlagen, elegante Einkaufszentren und Eliteclubs. Solche wohlhabenden Vororte spiegeln den sozialen Wandel vielsprachig wider: Als Zeichen der Zeit verkündet eine Bank in Chatswood, ihr Personal spreche Armenisch, Französisch, Italienisch, Malaiisch, Kantonesisch, Mandarin, Taiwanesisch, Japanisch, Hokien und Schanghaiisch.
Während jedoch die Regierung die Neureichen aus Asien willkommen heißt, haben alteingesessene Einwohner – auch solche asiatischer Abstammung – ihre Bedenken. Die Kaufwelle hat die Grundstückspreise in Chatswood in die Höhe getrieben. Neben bescheidenen Bungalows schossen teure Villen aus dem Boden, die alte Beschaulichkeit ist dahin.
„Die Asiaten kommen nicht her, um auf dem offenen Markt Eigentum zu erwerben. Sie warten, bis der Verkäufer verzweifelt ist, und kaufen dann zu Niedrigpreisen... Asiaten leisten schlechte Arbeit, verlangen aber nur niedrige Preise“, sagt Stuart Clancy, ein Elektriker in Chatswood. „Der durchschnittliche Australier fragt nicht nach Geld. Wichtig ist ihm der Lebensstil“, fährt er fort. „Diese Leute haben halb Australien aufgekauft. Als Australier habe ich das Gefühl, wir verlieren unsere Plätze.“
Andererseits empfinden asiatische Einwanderer eine kulturelle Kluft, die Geld nicht überbrücken kann. „Die Leute sind nett hier, aber es ist schwer, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Sie schütteln dir die Hand und hauen dir gleichzeitig in den Magen“, sagt Sam Zhou, ein Mann aus Beijing, der als studentischer Dissident aus China floh und nun in Chatswood einen Doughnut-Laden betreibt.
„Sie sind die besten Arbeiter, die ich je hatte. Sie sind Überlebenskünstler“, beobachtet Stewart Hanshaw, der Geschäftsführer des Doughnut-Ladens. „Ich hätte nichts dagegen, wenn mehr Chinesen kämen. Solange nicht wir in lecken Booten übers Meer fahren müssen, ist es in Ordnung.“
Seit kurzem sind jedoch Boote voller illegaler Chinesen in australischen Gewässern und an den Stränden aufgetaucht; sie wecken tiefsitzende Vorurteile und Ängste, von den „gelben Horden“ überrannt zu werden. Seit 1989, als Australien Tausenden chinesischer Studenten nach der militärischen Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz Asyl gewährte, sind über 1.700 Bootsflüchtlinge aus Asien gelandet, vor allem aus Vietnam und China.
Daraufhin haben die Behörden die illegalen Einwanderer in isolierte Internierungslager in Port Hedland in Westaustralien geschickt, und die Einwanderungsgesetze wurden verschärft. Im Frühjahr wurden im Rahmen einer Vereinbarung mit China, wonach siebenhundert Neuankömmlinge zurückgeschickt werden sollen, die ersten 53 Bootsflüchtlinge repatriiert – ethnische Chinesen aus Vietnam, die Ende der siebziger Jahre während des Krieges zwischen China und Vietnam nach China geflohen waren.
Zu den entschiedensten Gegnern der Neuankömmlinge gehören Chinesen aus alten australischen Familien, deren Vorfahren im neunzehnten Jahrhundert als versklavte Goldgräber ins Land kamen. Dieser Widerstand innerhalb der chinesischen Gemeinschaft ist in der Angst verwurzelt, eine große Zahl von Bootsflüchtlingen könne einen antiasiatischen Rückschlag auslösen und die Einwanderung weiterer Familienmitglieder verhindern.
„Wo soll denn das nur aufhören?“
Edward Quong, ein Restaurantbesitzer und Chinese der dritten Generation in der nördlichen Küstenstadt Darwin, erinnert sich, wie er in einem ausschließlich weißen Australien aufwuchs, in der Schule verhöhnt wurde, in der Öffentlichkeit nicht chinesisch sprechen und kein Land besitzen durfte. Im verzweifelten Bedürfnis nach Assimilation gab er seinen chinesischen Dialekt ebenso auf wie viele Bräuche; heute rühmt er sich, seine stolzeste Erinnerung sei ein Lunch mit Englands Königin Elizabeth auf ihrer königlichen Yacht vor der australischen Küste. „Ich gehöre jetzt zu den Weißen“, sagt er mit einem gewissen Stolz. Andererseits, sagt er, besitze er wenig Sympathie für chinesische Bootsflüchtlinge, die sich nur unfaire Vorteile verschaffen wollten und nach dem schnellen Geld gierten. „Wo soll das aufhören? Lassen wir heute 10.000 herein, werden es morgen 20.000 sein und den Tag darauf 40.000. Sollen wir ihnen dieses Land überlassen?“ fragt er. „Wenn wir alle hereinlassen, haben wir uns Amerika eingehandelt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen