: Der eigene Kamm im Bad
Viele Jahre lag Petra B. auf bloßen Fliesen. Jetzt schläft sie im eigenen Bett und schmiert sich die Brote selbst. Wie zwei neue Leiterinnen und die Wiedervereinigung den Menschen im ehemaligen DDR-Pflegeghetto Saalow ihre Würde zurückgeben ■ Von Vera Gaserow
Eine Wäscheleine – manchmal ist die Wiedervereinigung eine Wäscheleine. Oder ein Kamm. Sie kann auch ein Namensschild sein an der Tür. Manchmal macht die Wiedervereinigung banale Sachen: Sie zieht sich morgens an, sie sagt „Herr“ und „Sie“, sie ißt mit Messer und Gabel, lauter Selbstverständlichkeiten – an einem Ort wie diesem sind sie Revolution.
Der Ort vor fünf Jahren: Das „Maxim-Zetkin Pflegeheim Saalow“, Bezirk Potsdam, DDR. Staatliche Verwahranstalt für 600 Menschen, für DDR-Verhältnisse eine von der besseren Sorte. Endstation für jene, die man abgeschrieben hat: alleinstehende Alte, Körperbehinderte, geistig Verwirrte, psychisch Schwerstkranke in jedem Alter – nach praktischen Notwendigkeiten zusammengewürfelt, nach räumlichen Gegebenheiten beengt auf ein paar Quadratmeter Bett, Nachtschrank und Tisch.
Saalow im Dezember 1990. Der Gestank von Medizin und menschlichen Exkrementen bleibt nach einem Besuch tagelang in Haar und Nase hängen, und das Bild will sich einfach nicht von der Netzhaut lösen, das Bild von den Frauen, die – halbnackt in ihren Betten schaukelnd – sich mit Kot beschmieren, während einen halben Meter weiter ihre Nachbarinnen das Mittagessen löffeln. Das Urteil des Pflegepersonals bleibt als unabänderliches Schicksal haften: „Aus Saalow kommt keiner mehr raus.“
Der Ort fast fünf Jahre später: „DRK-Pflege- und Betreuungseinrichtung Saalower Berg“, Brandenburg, Bundesrepublik Deutschland. Dieselben flachen Häuser, dieselben Flure. Was fehlt, fällt am meisten auf: der durchdringende Gestank und die offenstehenden Zimmertüren. Statt dessen hängt ein Messingschild mit eingraviertem Namen an der Tür. Petra Beer* heißt die junge Frau, der das Zimmer gehört. Sie wird nie in der Lage sein, das kleine Schild zu lesen. Ihr Gehirn ist seit frühester Kindheit schwer geschädigt. Aber die Buchstaben sind Symbol: Petra Beer hat, für jeden sichtbar, einen Namen – und ein frischbezogenes Bett in ihrer Lieblingsfarbe, knallrot.
Vor nicht allzulanger Zeit bestand Petra Beers Bett aus ein paar Quadratmetern Fliesen: Weil sie sich ständig einkotete, ließ man sie jahrelang auf dem Steinboden liegen. Das war praktisch und pflegeleicht. Aus ihrem winzigen Raum traute Petra sich nicht heraus. Gleichzeitig hat sie mit unbändiger Kraft um Bewegungsfreiheit gekämpft – hat mit bloßen Fingern das Mauerwerk ausgehöhlt, die Stahltür durchbrochen, die Kleidung in Streifen gerissen, die Menschen getreten, gebissen, gekratzt. Wenn Petra einen ihrer „Ausraster“ bekam, wurde sie in die Zwangsjacke gesteckt oder ans Bettgestell „fixiert“.
Petra Beer – als Kerstin Hartwig vor vier Jahren nach Saalow kam, ahnte sie, daß, wenn überhaupt, hier der Schlüssel für Veränderung liegt. Petra Beer lag auf der „Fünfzehn“, das war die Station mit den jungen geistig Schwerstbehinderten. Sie war eine der schwierigsten von allen. Eine, die man vor fünf Jahren am liebsten gar nicht zeigen wollte. Eine, von denen es hieß: „Da können Sie nur mit Gummistiefeln rein.“ Kerstin Hartwig, gelernte Lehrerin aus der DDR, erinnert sich noch gut an ihren ersten Arbeitstag in Saalow: „Ich stand wie unter Schock. Ich hatte nicht gedacht, daß es so etwas bei uns gibt.“ In einer Mischung aus Ratlosigkeit und Intuition hat sie sich dann den „schwersten Brocken, die Petra, geschnappt“. Sie hat die junge Frau mit dem fragenden Kindergesicht bei der Hand genommen und von der Essensausgabe bis zum Gang aufs Klo nicht von ihrer Seite gelassen. Was folgte sind Stationen einer Entwicklung, die in Schüben vorangeht und dann wieder zum Verzweifeln auf der Stelle tritt: Petra traut sich allein aus dem Zimmer. Nach einem Jahr kann sie erste Worte sprechen. Irgendwann hängt der Pullover nicht mehr in Streifen an ihr herunter. Nach zwei Jahren behält sie nachts sogar den Schlafanzug an. Wenn Petra heute einen ihrer aggressiven „Ausraster“ bekommt, hilft meist ein sanftes Rezept: eine warme Badewanne mit reichlich bunten Schwimmenten drin.
Petra Beer ist nicht mehr „untergebracht“. Sie wohnt. Aus der „Fünfzehn“ sind zwei Wohngruppen geworden. Seit einem Jahr leben jeweils sieben Behinderte zusammen. Allein der Umzug in die eigenen Zimmer hat kaum denkbare Entwicklungsschritte bewirkt. Würde verändert. Im Bad hat jeder sein Fach mit der Lieblingsseife und dem eigenen Shampoo. Jede Wohngruppe hat eine Küche und ein kleines Eßzimmer. Frühstück und Abendbrot werden nicht mehr mundgerecht vor die Nase gestellt.
Mittagessen in Saalow – eine anrührende Zeremonie: Mit feierlicher Ernsthaftigkeit und äußerster Konzentration wird das Kunststück „Mit-Messer-und-Gabel-essen“ trainiert. Keine leichte Übung auch für das Betreuerteam: gegen die jahrelange Gewohnheit und die Ungeduld ankämpfen, nicht alles rasch auf den Teller packen, sondern wieder und wieder zeigen, wie man eine Stulle schmiert. Petra Beer tut sich schwer mit diesem Kunststück. Vieleicht wird sie keine großen Entwicklungssprünge mehr machen, aber aus dem Wesen auf den Steinfliesen ist eine Person geworden. Im Sommer war sie mit der Wohngruppe verreist, und neulich ist sie zum ersten Mal im Leben Zug gefahren. Von wegen „aus Saalow kommt keiner mehr raus“.
„Raus“ – wenn vor fünf Jahren das Schild „Endstation“ über Saalow hing, so zeigt heute ein Wegweiser Richtung Ausgang. Saalow, das Pflegeghetto made in DDR, betreibt geplant seine Selbstauflösung. Seit das DRK das Heim übernommen hat, wurde die Zahl der BewohnerInnen auf 470 reduziert. Saalow will zu einer Wohneinrichtung für „psychisch veränderte“ alte Menschen schrumpfen. Bis zum Jahr 2000 werden die 191 geistig und körperlich Behinderten in kleinere Heime und Wohngruppen umgezogen sein. Und im Herbst startet Saalow selbst das Experiment: Zehn Behinderte, darunter fünf Frauen aus einer der ehemals schlimmsten Stationen, werden ins „Allerheiligste“ einziehen – ins Verwaltungsgebäude. Bis vor einem Jahr war ihnen der Zutritt zu diesen Räumen verwehrt, ab Oktober sollen sie gerade hier das gemeinsame Wohnen trainieren. Vor dem Auszug lernen sie selber kochen und wirtschaften. Lernprogramm auch für die Leute in der Verwaltung: Sie werden zusammenrücken und sich an die neuen Nachbarn auf den Fluren gewöhnen müssen. Palastrevolution.
Die Revolution ist von oben entfacht. Sabine Wrona und Rosemarie Schramm, die neuen Leiterinnen von Saalow, zetteln sie eigenhändig an. Die beiden Frauen, eine West, die andere Ost, sind Überzeugungstäterinnen: Vor allem geht es ihnen um eine Revolution in den Köpfen.
Sicher, die Wiedervereinigung hat bessere Bedingungen gebracht: Die Zimmer konnten hübsch eingerichtet, die Wände gestrichen werden. Pampers haben die stinkenden Mullwindeln ersetzt. Und wo früher mitten in einem Dreibett-Zimmer die einzige Badewanne stand, macht heute ein behindertengerechtes Bad eine tägliche Hygiene erst möglich. Aber die kostbaren Errungenschaften sorgen auch für hauseigene Vergangenheitsverklärung der spiegelverkehrten Art: Man konnte ja gar nicht anders unter den DDR-Verhältnissen! Wo doch alles immer knapp war: Medikamente, Personal, Seife. Daß noch etwas anderes Mangelware war, können sich einige MitarbeiterInnen bis heute nicht eingestehen. Andere sehen jetzt, was möglich ist und wohl schon vorher möglich gewesen wäre.
In Fortbildungen und ständigen Diskussionen versucht Sabine Wrona zu vermitteln, daß es an Orten wie Saalow um die Einstellung zu den Menschen geht, daß hier das Bewußtsein der einen das Sein der anderen bestimmt. „Es muß in die Köpfe rein, daß wir hier kein eigenes Recht haben, sondern Teil einer Gesellschaft sind.“ Die Mitarbeiterinnen sind motiviert, das zu lernen. Für „Wessi“ Wrona eine neue Erfahrung: „Die akzeptieren, daß hier Bewegung nötig ist.“
Bewegung von oben: Per Anordnung haben Sabine Wrona und Rosemarie Schramm auf Veränderungen gedrungen, die mehr sind als äußere Zeichen: Die Menschen in Saalow sind nicht mehr „Schwester“ und „Patient“, sondern tragen einen Namen. Sie heißen nicht mehr „Opa“ und „du“, sondern Herr Hein, und Herrn Heins Zimmer betritt man nicht, ohne zu klopfen. Und wie im richtigen Leben wohnen Männer und Frauen Tür an Tür. Im Behindertenbereich hat diese Mischung einen erstaunlichen Zivilisierungsprozeß in Gang gesetzt: „Seit in dem Haus auch Frauen leben“, beobachtet Rosemarie Schramm, „sind die Männer gepflegter und entwickeln ein natürliches Schambedürfnis. Sie laufen jetzt wenigstens mit einem Slip bekleidet über den Flur.“
Doch Veränderung schafft auch Ängste, bei Personal und Bewohnern: Angst davor, die Arbeit zu verlieren und vor neuen Anforderungen, Angst vor einer neuen Umgebung und davor, die Rundumversorgung zu verlieren. „Selbständigkeit“ – diesen Begriff hat Sabine Wrona „erst hier als problembesetzt kennengelernt“.
Nein, da „in die Walachei“, da wollten sie auf keinen Fall hin. Und schon gar nicht zu den „Verrückten“. Sabine Wrona hat sich den Mund fusselig geredet, die alten Damen von dem Experiment zu überzeugen: Sie seien doch fit genug, um selbständig zu leben. Seit Anfang Juli ist es soweit, und die Frauenrunde mit den Silberlöckchen ist stolz. Fünf von ihnen haben das „Haus Kastanie“ bezogen, ein eigenes Haus auf Saalower Gelände. Und das soll ansteckend wirken. Sie wohnen nicht mehr „auf Station“, sondern in einer betreuten Wohngruppe in eigenen Zimmern – und dafür, bitteschön, zahlen sie jetzt auch Miete. Wer Miete zahlt, kann morgens so lange schlafen wie er will, und wenn er mag, kann er sich auch das Essen selber machen. „Früher haben die Schwestern morgens die Türen aufgerissen: – Frühstück! Wieviel? Womit? Abends haben sie in die Zimmer reingebrüllt – Gute Nacht! Die waren ja wie Soldaten!“ – die alten Damen wettern, und Sabine Wrona schmunzelt in sich hinein: „So zu schimpfen, hätten die sich vor ein paar Wochen nie getraut.“
„Jeder Nagel hier gehört mir“, strahlt Frau Herden. Und hat man denn schon ihr Bett gesehen? „Funkelnagelneu, von der eigenen Rente gekauft, und die Bettwäsche auch. Ich wollte schon nicht mehr leben, aber jetzt fühl' ich mich wieder als Mensch.“ Einen Tag zuvor hat die 83jährige einen Wäschekorb erstanden, und draußen im Garten hängt die stolzeste Errungenschaft, die es derzeit für die alten Damen gibt: ein paar Meter Strippe mit selbstgewaschenen Unterhemden.
Eine Wäscheleine, manchmal ist die Wiedervereinigung eben eine Wäscheleine, und an einem Ort wie diesem ist eine Wäscheleine Revolution.
*Name von der Redaktion geändert
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