: Heidchen P. und die verbotene Liebe
Seit die Werbeindustrie ihr Desinteresse an den über Fünfzigjährigen signalisiert hat, werden sie nur noch als konsumfeindliche „Kukidents“ verspottet. Wie nutzen ältere Zuschauer eigentlich das Fernsehen? ■ Von Knut Hickethier
Als Grufties und passive Couch Potatoes geschmäht, sind die zwischen 50- und 100jährigen als Zuschauer bei den TV-Strategen unbeliebt. „Die Kukidents überlasse ich dem ZDF“, äußerte sich RTL- Chef Helmut Thoma, selbst dieser Altersgruppe angehörend. Dabei garantieren gerade sie die auch von Thoma so heiß begehrte Einschaltquote, weil sie, statistisch gesehen, auch bei RTL am längsten und häufigsten vor dem Bildschirm hocken.
Nach den seit Jahren erhobenen MA-Daten steigt das Zeitbudget für AV-Medien mit dem Alter kontinuierlich an, und die GfK- Zuschauermessung weist für die über 65jährigen im Westen eine tägliche Fernsehnutzung von 234 Minuten und im Osten eine von 281 Minuten im Jahresschnitt aus.
Wie aber sehen die Alten tatsächlich fern? Stimmt das Bild der passiv aus den Sofatiefen in die Röhre glotzenden Fernsehgreise?
Zeitplaner
Ursula R. ist jetzt 71 Jahre alt, in ihren Berufsjahren lebte sie in Berlin, jetzt hat sie in ihrem Haus in der Lüneburger Heide drei Fernsehgeräte und zwei Videorecorder laufen, doch auf die GfK- Durchschnittswerte kommt sie selten. Das Fernsehen, einmal als Kontakt der Heidekate zur weiten Welt gedacht, spielt in ihrem Leben keine zentrale Rolle mehr.
Die vielen Bekanntschaften in der Gemeinde und im Landkreis sind ihr wichtiger geworden. Die Tage sind langfristig mit Bridge, Gartenarbeit, Haushaltsführung, Radfahren und Besuch der Freunde verplant. Zum Fernsehen habe sie kaum noch Zeit, sagt sie. Dennoch ist ihr die Möglichkeit wichtig, jederzeit Zugang dazu und damit zum Weltgeschehen zu haben.
Morgens schaut sie mal Frühstücksfernsehen, abends die vertrauten Serien, bei denen sie oft einschläft. Das gehört zu ihrem Fernsehritual, war aber auch schon vor dreißig Jahren so.
Die Tagesschau sieht sie nur noch selten, Wickert darf kaum noch zu ihr, Küppersbusch hat sie noch nie gesehen, und Koschwitz: „Wer ist das?“ Vieles kommt ihr auch zu spät am Abend. Gesprächssendungen bevorzugt sie zunehmend, wenn keiner da ist, mit dem sie sich direkt unterhalten kann.
Restzeitverwerter
Ihre Nachbarin Irene K., gerade im Vorruhestand mit einer Werksabfindung, baut mit ihrem Mann, einem gelernten Maurer, in diesem Sommer auf dem eigenen Grundstück eigenhändig ein zweites Haus. Das füllt die Tage und Abende aus. Schützenverein, Freiwillige Feuerwehr, Geburtstage oder auch nur ein Bier beim Nachbarn sind zudem allemal wichtiger als der Fernseher. Dieser bietet ihr eine Restzeitverwertung: Unterhaltung immer dann, wenn sonst nichts los ist. Sicherlich ist auch sie nicht die typische Fernsehzuschauerin. Doch wer ist das schon?
Fernsehgewohnheiten im Alter unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den im Lauf eines Lebens angenommenen TV-Gewohnheiten. Es ist in der Regel nur mehr disponible Zeit dazugekommen. Fast immer gibt es im Alter ein vielfältig ausgebautes Geflecht von Tätigkeiten, in dem das Fernsehen einen bestimmten, aber von Person zu Person unterschiedlichen Stellenwert einnimmt. Ein spezielles Altenfernsehen hätte es deshalb als Spartenprogramm schwer, weil es eine gemeinsame Interessenlage „Alter“ gar nicht gibt.
Struktursucher
Heidchen P., 75 Jahre alt, in der Kleinstadt Uelzen lebend, versinkt regelmäßig abends, oft auch schon nachmittags im Fernsehsessel. Sie fühlt sich vom Leben benachteiligt. Die lebensprallen Schicksale in Filmen und Serien geben ihr das Gefühl, doch noch irgendwie dabeizusein. Fernsehen liefert ihr eine Anschauung, wie es hätte sein können, wenn sie anders gelebt hätte.
Deshalb stehen bei ihr Familienserien mit eher ungefährlichen Konflikten im Vordergrund. Die „Lindenstraße“ ist ihr zu strapaziös, die Welt der „Verbotenen Liebe“ fremd. Harmonie auf dem Bildschirm wird von ihr gesucht, aber immer seltener geliefert.
Allerdings ist ihr das Fernsehvergnügen wegen einer Augenoperation für einige Zeit versagt. Das Gefühl, von der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein, wird nun nicht mehr durch TV-Erzählungen kompensiert. Das verstärkt die depressive Stimmung.
Ließ der Alltag mit seinen selbstgesetzten Zwängen und Verpflichtungen den anderen beiden Frauen kaum Zeit fürs Fernsehen, so war es Heidchen P. nicht gelungen, sich nach dem Tod ihres Mannes ein eigenes soziales Netz aufzubauen. Das Fernsehen nimmt bei ihr die Stelle des fehlenden „Außenkontaktes“ ein. Daß auch der Ersatz nun zeitweilig ausfällt, wird doppelt spürbar. Fernsehen ist ihr mit seinen Zeitstrukturen willkommene Ausfüllung der eigenen unstrukturierten Zeit. Einen Videorecorder besitzt sie nicht. Weniger weil sie die Technik nicht beherrscht, wie sie vorgibt, sondern mehr, weil sie dann ihre TV-Zeit allein strukturieren müßte.
Fenstergucker
Helene Sch., 84 Jahre alt, lebt in einem Berliner Seniorenheim. Das Fernsehen hat bei ihr einen festen Platz im ohnehin zeitlich genau geregelten Tagesablauf. Nach dem Abendessen besucht sie ihre Zimmernachbarin, und beide sehen dann gemeinsam fern. Früher haben sie sich oft ausführlich über das Gesehene unterhalten. Das ist jetzt weniger geworden. Fernsehen ist beiden ein Kontakt zum Leben „draußen“, und sie finden dabei oft nur die Schlechtigkeit der Menschen bestätigt. So wie man sich früher gemeinsam, auf ein Kissen gestützt, zum Fenster hinauslehnte und dem Treiben auf der Straße zusah. Einem spezifischen Kanal für Senioren würden sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit verweigern, weil sie Alte genug um sich haben. Das sehen viele andere ältere Zuschauer ähnlich.
Kulturfreak
Helmut P., 73 Jahre alt, ist viel unterwegs und ausgesprochen medienfreudig. Sein kleines Zimmer in einem Spandauer Seniorenheim steht voller Videokassetten, er liebt alte deutsche Spielfilme, Theater und Oper. Neugierig wie er ist, sieht er sich gelegentlich auch Jugendprogramme an, wobei ihm die digitale Ästhetik allerdings zu schnell ist. Er will verstehen, was sich in anderen Lebensbereichen verändert, ohne mit diesen selbst in direkten Kontakt treten zu müssen. Er ist vor allem für schöne Filmgeschichten zu haben, die möglichst noch in den dreißiger Jahren spielen sollen. Sein Abendprogramm plant er zumeist minutiös, nachmittags guckt er gelegentlich auch spontan. Fernsehen vermittelt ihm Zugang zu Kulturangeboten, die ihm sonst verschlossen sind. Die ausgewählten Sendungen genießt, ja zelebriert er und läßt sich dabei ungern stören.
Die genannten TV-Gebrauchsweisen älterer Zuschauer ließen sich ergänzen. Keiner ist zudem auf eine einzige unverrückbar festgelegt. Sie können sich, bedingt durch neue Lebenssituationen, jederzeit ändern. Die von den Werbestrategen erfundenen Typologien (zuletzt die für RTL entwickelte tiefenpsychologische Typologie „Psychographics“) greifen deshalb zu kurz, weil sich kaum ein Zuschauer definitiv in solchen Schubladen einordnen läßt. Auch im Alter gibt es noch eine Resistenz des konkreten Lebens gegen die Verwertungsstrategien.
Den meisten älteren Zuschauern gemeinsam ist, daß Fernsehen für sie nicht die Bedeutung hat, wie die Programmverantwortlichen glauben. Sie definieren sich nicht über dieses Medium, es ist für die meisten eine Nebensache, füllt sonst ungenutzte Zeit aus, viel mehr auch nicht. Helmut Thomas Kukident-Beschimpfung läßt sie deshalb kalt. Ihre Erfahrung sagt ihnen, daß die RTL-Welt doch eine sehr spezielle ist. Und daß die Gesellschaft der über 50jährigen schneller wächst als die der unter 50jährigen.
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