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Problembewußtsein für Profis

Mädchen dürfen keine Lieder singen: An der Berliner Staatsoper wurde „Brundibár“, eine auch im KZ Theresienstadt gespielte Kinderoper, wiederaufgeführt. Das Werk wurde jedoch repräsentativ runtergeschirmherrschaftet  ■ Von Waltraud Schwab

Noch immer scheint Polen oder Tschechien weiter weg zu sein als Spanien oder Italien. Nach Osten zieht es deutsche Urlauber weit weniger oft als nach Süden.

Berührungsängste solcher Art hat das Jeunesses Musicales Weltorchester nicht. Unter seiner Leitung hatten deutsche, polnische und tschechische Kinder am 1. September mit Hans Krásas „Brundibár“ Premiere in der Staatsoper Unter den Linden. Das Datum ist nicht weniger symbolhaft als das Werk. Wurde die Kinderoper doch im Herbst 1942 in einem jüdischen Waisenhaus in Prag einstudiert und im KZ Theresienstadt, wohin alle Kinder verschleppt wurden, noch 55mal aufgeführt.

Drei Kinderchöre – die Polnischen Nachtigallen, der Philharmonische Kinderchor Prag und der Tölzer Knabenchor – singen bei der Neueinstudierung in allen drei Sprachen, denn die Oper wird nicht nur in Berlin, sondern auch in Warschau und Prag gespielt. Um den jungen Sängern und Sängerinnen den historischen Zusammenhang nahezubringen, wurde gemeinsam in Theresienstadt geprobt. Musikalischer Leiter des Projekts ist der Cellist Raphael Sommer, der 1943/44 bei allen Aufführungen von „Brundibár“ im KZ mitgemacht hat. Fast alle damals beteiligten Kinder waren unter den 88.000 Menschen, die von dort in Vernichtungslager in Polen deportiert wurden. Raphael Sommer gehört zu den wenigen, die in Theresienstadt überlebten.

Die zum Ghetto umfunktionierte Festungsstadt diente den Nazis zu Propagandazwecken und als Vorzeigelager. Das heißt nicht, daß die Lebensbedingungen nicht katastrophal waren. 33.000 Menschen, ein Viertel aller je in Theresienstadt internierten, starben dort an Hunger, Krankheit oder infolge von Mißhandlungen. Fragt man Raphael Sommer nach seinen Erinnerungen an das KZ, sagt er, daß seine Mutter, die Pianistin Alice Herz-Sommer, ihm einen solchen Grad an Normalität vorgelebt habe, daß es für ihn erträglich wurde. Folgt man jedoch seiner Mimik, wenn er im Vorprogramm die Solo-Suite für Cello Nr. 3 von Johann Sebastian Bach spielt, drückt sich in seinem Gesicht ein so tiefer Schmerz aus, daß solche Erklärungen zu einfach scheinen.

Während Raphael Sommer spielt, sind die Kinder auf die Bühne gekommen. Einige malen die Häuser und Bäume auf der Bühnenwand an, einige stehen ehrfürchtig hinter dem Cellisten. Sobald er fertig ist, öffnet sich die gemalte Stadt wie ein großes Tor zur Bühne, einem improvisierten Klassenzimmer, und das Jeunesses Musicales Weltorchester betritt den Saal.

Die Handlung der Oper ist einfach: Aninka und Pepicek brauchen Milch für ihre kranke Mutter. Sie haben kein Geld, aber umsonst will sie ihnen der Milchverkäufer nicht geben. Da sehen sie den Leierkastenspieler Brundibár. Das bringt die Kinder auf die Idee, auch zu singen und Geld zu sammeln, aber Brundibár verjagt sie. Über Nacht verbünden sich der Hund, die Katze und der Spatz mit den Geschwistern. Gemeinsam gelingt es ihnen, sich gegen Brundibárs fortdauernde Schikanen zu wehren und ihn letztlich in die Flucht zu schlagen. Die Kinder besiegen das Böse. Diese Metaphorik haben die Internierten direkt auf sich bezogen. Für das Schlußlied gibt es daher eine „Theresienstadt- Version“, die auch jetzt gesungen wird: „Wer die Gerechtigkeit liebt und ihr zu ihrem Recht verhilft, und wer sich nicht fürchtet, der ist unser Freund und darf mit uns spielen.“

Die Neuinszenierung von Franziska Severin bleibt halbherzig und farblos, auf ein Repertoire einfachster Symbole beschränkt. Die Stadt, in der die Oper spielt, ist auf Rechtecke aufgemalt, die wie Fliesen wirken und an die „Badehäuser“ der KZs erinnern. Oben auf der Bühnendekoration liegt Stacheldraht. Alle Nahrungsmittel sind nur gemalt. Bilder kann man nicht essen.

Alles an diesem Projekt sollte repräsentativ wirken. Die drei Staatspräsidenten übernahmen die Schirmherrschaft, die Staatsoper steht als Spielort zur Verfügung, das Fernsehen begleitet die Kinder auf Schritt und Tritt, und außerdem wurden die „besten Kinderchöre“ ausgewählt. Die Betonung der Rekonstruktionsarbeit wird gerade dadurch elitär. In zweifacher Hinsicht irritierend ist die Entscheidung der Jeunesses Musicales für den Tölzer Knabenchor: In Theresienstadt war der Chor gemischt, und die Erklärung, daß bis auf eine Rolle nur Jungen vorgesehen sein sollen, klingt hohl. Seit wann kann in einer Oper ein Mädchen kein Spatz, kein Hund, keine Katze oder keine Milchfrau mehr sein?

Mit der Wiederaufführung von „Brundibár“ wird ganz sicher ein Zeichen gegen Rassismus und für die Verständigung der Völker gesetzt. Schade allerdings ist, daß die Professionalisierung des Kindergesangs eine solche Priorität hatte, daß das Problembewußtsein vor der Frage der Besetzung haltmachte. Denn die bis auf eine Ausnahme einheitlichen mitteleuropäischen Kindergesichter spiegeln zumindest nicht die Realität von Berlin, gibt es doch Stadtbezirke, in denen die Hälfte der Kinder jedes Jahrgangs nichtdeutscher Herkunft ist. Zu vermuten, diese könnten nicht perfekt genug singen, ist zu einfach. Ein Schritt vor, zwei zurück?

„Brundibár“ wird heute und morgen noch in Prag aufgeführt.

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