: Kandidat in Wartestellung
■ Schröders Stärke: die Selbstzweifel der SPD
Tritt der Mann nur nach, oder tritt er wieder an? Schröder kritisiert, was er an seiner Partei immer kritisiert, „das Kartell der Mittelmäßigkeit“, spricht von Struck und meint Scharping. Schröder lamentiert über die Rolle des wirtschaftspolitischen Sprechers: „Man muß doch auch mal etwas Provokantes sagen können.“ Redet von sich und meint auch Scharping. Hatte der nicht, als er in Tutzing seiner Partei die Leviten las, deren politische Verkrustungen gegeißelt und strategische Neuorientierungen eingeklagt? Hatte der nicht gefordert, den Sozialstaat umzubauen und den Akzent stärker auf die Wirtschaftspolitik zu legen? Alles starker Tobak für sozialdemokratische Ohren, alles O-Ton Schröder. Hatte Scharping nicht in der Wirtschaftspolitik den Hebel erkannt, mit dem die Grünen zu knebeln seien, und in Schröder den Mann, den Hebel zu handhaben?
Scharping hat den Bruder im wirtschaftspolitischen Geiste gerufen, nun wird er ihn nicht mehr los. Bei jeder Initiative, die die SPD auf diesem Feld starten wird, kann Schröder genüßlich auf seine Miturheberschaft verweisen. Er wird punkten, ohne zu kämpfen. Damit muß Scharping leben, es sei denn, er spielt wieder den Gesamtbetriebsrat der Nation. Schröder steht für eine Position, die, ob sie gefällt oder nicht, konturiert ist. Gleiches kann ansatzweise Oskar Lafontaine für sich in Anspruch nehmen. Doch wofür steht Scharping? Er führt eine Partei, die in ihren Teilen nicht mehr weiß, was sie zusammenhält. Er mobilisiert und moderiert, integriert und interveniert, doch ist das schon ein Profil?
Fehlendes Ansehen und mangelnde Innovation – die Person des Frontmanns spiegelt den Zustand der Partei, sie kompensiert ihn nicht. Das macht die SPD Scharping zu Unrecht sogar zum Vorwurf. Das Lamento verlangt nach einem Vorgehen, das, so die Quadratur des sozialdemokratischen Kreises, alle einbezieht. Schröder verkörpert ein Vorgehen, das allenfalls alle mitzieht. Er ist auf Erfolg geeicht, auf Medienpräsenz gepolt, auf Publikumsresonanz ausgerichtet. Ein Politiker, dem die Partei weniger substantieller denn funktionaler Wert ist. Daran reibt sich sozialdemokratisches Selbstverständnis, ohne über eine passende Antwort zu verfügen. Die Antwort lautete auch in den kommenden Jahren Scharping – würde die Partei daran nicht selber zweifeln. Auf diesem Selbstzweifel fußt Schröders Gewißheit, daß sich die Kandidatur erst 1998 entscheidet – am Gegner. Und der heißt dann nicht Scharping oder Schröder, sondern Kohl. Dieter Rulff
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