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„Ich bin zum Abschuß frei“

■ Wegen seiner Auslegung des Korans wurde er von seiner Frau zwangsgeschieden und mit dem Tode bedroht. Dennoch glaubt er an eine „islamische Reformation“: Nasr Hamid Abu Said

Professor Abu Said, Sie und Ihre Frau wurden von einem Kairoer Gericht zwangsgeschieden, weil Sie ein Apostat, ein vom Glauben Abgefallener seien.

Abu Said: Das Urteil basiert auf einer falschen Interpretation einiger Stellen in meinen Büchern. In einem davon habe ich beispielsweise gesagt, unsere Vorstellungen von Gott würden ins Lächerliche, ins Märchenhafte gehen, wenn wir die vielen Stellen im Koran, in denen Gott als König mit Sitz, Thron und Soldaten beschrieben wird, wörtlich nehmen. Das gilt besonders für die vielen religiösen Bücher, in denen Deuter diesen Sitz, den Thron, die Soldaten und Engel ausführlich beschreiben, ja sogar über die Aufgaben der Soldaten und Engel ellenlange Erläuterungen verfassen. Das geht doch nicht.

Darf ein Gericht in Ägypten ein solches Urteil überhaupt fällen?

Das Gericht hat seine Kompetenz überschritten. Seine Aufgabe war nur, darüber zu befinden, ob die Entscheidung der ersten Instanz richtig war. Diese hatte die Scheidungsklage gegen mich nämlich abgelehnt, weil sie jeder juristischen Grundlage entbehrte. Aber der zuständige Richter überging dieses Problem und behandelte direkt den gegen mich erhobenen Vorwurf, ich sei vom Glauben abgefallen. Er befand, daß meine Ideen und Thesen dies bewiesen, und entschied deshalb, ich müsse von meiner Frau zwangsgeschieden werden.

Der Richter muß sich dabei doch auf irgendein Gesetz, eine Autorität oder eine juristische Quelle gestützt haben. Er erläßt doch nicht seine eigenen Gesetze?

Er stützte sein Urteil hier nicht auf die islamische Gesetzgebung, sondern auf einige sehr schwache Aussagen verschiedener Islamgelehrter. Das Urteil zeigt deutlich, daß der Richter zwischen der islamischen Gesetzgebung und ihrer möglichen Interpretation nicht unterscheiden konnte.

Die Scharia besteht aus den heiligen Texten des Korans und der Hadithe. Die Interpretationen geben die Meinungen der verschiedenen Gelehrten wider.

Was genau hat nun zu dem Vorwurf geführt, Sie seien abtrünnig geworden?

Der Grund dafür war mein Versuch, die heiligen Texte nach rationalen Gesichtspunkten zu verstehen, der Versuch, das wortwörtliche Verständnis der Texte zu analysieren, weil diese Art des Verstehens mir sehr gefährlich erscheint.

Können Sie dafür Beispiele nennen?

Der Koran sagt etwa, daß Männer bis zu vier Frauen heiraten können und zusätzlich mit den Frauen verkehren dürfen, die sie besitzen. Dieser Abschnitt hat meiner Ansicht nach keine Gültigkeit mehr, denn er wandte sich an eine Gesellschaft, in der Sklaverei eine Selbstverständlichkeit war. Der Mann durfte vier Frauen heiraten und noch dazu mit seinen Sklavinnen schlafen. Das Zeitalter der Sklaverei ist aber vorbei, und obwohl der Text ein heiliger blieb, kann man ihn nicht mehr anwenden. Er hat nur noch eine historische Bedeutung. Wir erfahren durch ihn, daß es damals Sklaverei gab. Das Gericht meinte, ich hätte durch meine Aussage die Heiligkeit des Korans geleugnet. Aber ich leugne nichts, ich versuche zu verstehen.

Ein anderes Beispiel: Der Koran sagt, daß die „Menschen des Buches“ (Juden und Christen), die in einer islamischen Gesellschaft leben, Kopfsteuer zahlen müssen. Die Islamgelehrten sahen darin eine Art Wehrsteuer, die nur von jungen, kampffähigen Männern zu entrichten war. Frauen, Kinder, Greise und Priester sollten davon befreit sein, weil sie nicht an Kampfhandlungen teilnähmen. Ich bin der Meinung, daß auch dieses Gebot seine Gültigkeit in der modernen Gesellschaft verloren hat, weil zum Beispiel der junge christliche Soldat in Ägypten seit langem Seite an Seite mit seinem muslimischen Landsmann kämpft. Sein Blut hat sich in allen Kriegen, die Ägypten seit der Napoleon-Expedition Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Oktoberkrieg 1973 geführt hat, mit dem Blut seines muslimischen Bruders gemischt. Man kann unmöglich von einem Christen eine Wehrsteuer verlangen, während er sich aktiv an Kampfhandlungen beteiligt.

Diese Auslegung wurde als Beweis für meinen Abfall vom Glauben angeführt, ebenso wie meine Aussagen zur Frage der Erbschaft.

Sie meinen, daß weibliche Mitglieder der Familie nur die Hälfte dessen bekommen, was männliche Erben erhalten?

Ja. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Frau vor dem Islam überhaupt kein Erbrecht besaß. Sie war sogar selbst ein Teil des Erbes, gehörte zum Eigentum. Der Islam hat damals eine ganz große Tat vollbracht, als er ihr zugestand, die Hälfte dessen zu erben, was der Mann erbt. Heute, wo die Frau an allen gesellschaftlichen Aktivitäten teilnimmt, sich ihre Rolle in nichts von der des Mannes unterscheidet, soll sie auch weiterhin nur die Hälfte erben? Ich kann doch nicht meine Frau, Dr. Ibtihal Younes, so behandeln, als ob sie nur die Hälfte dessen wert wäre, was Nasr Hamed Abu Said wert ist.

Die Islamisten meinen, die moderne Interpretation der Texte führe dazu, daß der Koran seine Wirkung verliere. Diese komme daher, daß der Koran das absolute, unveränderliche Wort Gottes und die absolute Wahrheit sei.

Das genau ist das Problem: die absolute Wahrheit. Deshalb berief ich mich in meinen Studien auf Omar Ibn el Khattab, den zweiten Khalifen nach Mohammed, und für viele der bedeutendste Staatsmann in der islamischen Geschichte. Omar hat nämlich drei Jahre nach dem Tode des Propheten eine Aussage des Koran aufgehoben, die besagte, man solle einen Teil der Staatseinnahmen den Führern jener Stämme und Sippen geben, die dem Islam nicht unbedingt freundlich gesonnen waren. Damit sollten sie neutralisiert werden. Als Omar Khalif wurde, hat er dieses eindeutige Gebot aufgehoben und stellte die Zahlungen ein. Seine Begründung: Das Gebot war notwendig, solange der Islam noch auf schwachen Füßen stand. Omar hatte damals schon begriffen, daß die Texte keinen absoluten, unveränderbaren Wahrheitsanspruch besitzen, sondern daß alles davon abhängt, ob Gebote und Verbote begründet sind oder nicht.

Sie leben mit Ihrer Frau wie Gefangene im eigenen Haus, streng bewacht von Sicherheitskräften. Der Staat, der Ihnen diesen Schutz gewährt, läßt gleichzeitig zu, daß Sie in diversen Zeitungen und Zeitschriften als Ketzer gebrandmarkt werden. Wie kann man das verstehen?

Da gibt es zuallererst die Moscheen, die für die radikalen Muslimprediger offenstehen und in denen ich von früh bis spät beschimpft, verflucht und zum Ketzer erklärt werde, besonders in den Freitagspredigten. Es gibt die Zeitung Das islamische Banner, die von der regierenden Nationalen Partei herausgegeben wird. Es gibt auch das Blatt Mein Glaube, das zur offiziellen Zeitung Al Gumhuriyya gehört. In ihnen, wie auch in den Zeitungen einiger Oppositionsparteien, werde ich massiv angegriffen. Die Situation ist wirklich sonderbar. Der Staat, der diese Zeitungen herausgibt und die Aufsicht über die Moscheen ausübt, läßt das zu. Es ist aber der gleiche Staat, der mir Schutz gewährt, da ich mich nur unter starken Sicherheitsmaßnahmen bewegen kann.

Wohin führt dieses staatliche Doppelspiel?

Ich möchte mich hier der Beschreibung eines Soziologen anschließen, der die Regierung für sehr kraftlos hält, unfähig, die Probleme zu meistern. Man könnte es auch so sehen, daß sie glaubt, von diesem Zustand zu profitieren und sich dadurch zu konsolidieren. Denn wenn die einen Angst vor den anderen haben, bleibt allen nur die Möglichkeit, Schutz bei der Regierung zu suchen.

Erntet Ägypten heute die Früchte seiner jahrelangen nachsichtigen Politik gegenüber den Islamisten?

Sicher! Drei Ereignisse zeigen das deutlich. Das erste war der Versuch, Nagib Machfus umzubringen. Machfus ist nicht irgendein Schriftsteller, nicht nur, weil er den Nobelpreis bekam. Er hat die arabische Literatur international salonfähig gemacht hat, durch ihn wird sie heutzutage in alle Sprachen der Welt übersetzt. Ich kann Nagib Machfus nicht tief genug danken. Und ausgerechnet diesen Menschen können wir nicht schützen. Das Attentat auf ihn war der Versuch, das Genie, die schöpferische Kraft der Gesellschaft zu ermorden. Das zweite Ereignis ist der Versuch, die Rationalität, die Wissenschaftlichkeit mundtot zumachen. Hinzu kam vor kurzem als drittes, alarmierendes Ereignis das Attentat auf den Staatspräsidenten. Was muß noch geschehen, damit die Regierung aufwacht und den Ernst der Lage begreift?

Direkt nach Bekanntwerden des Urteils gegen Sie und Ihre Frau hat sich in Deutschland ein „Komitee zur Unterstützung von Nasr Hamed Abu Said“ gebildet, das vor allem aus namhaften Orientalisten besteht. Das Komitee sandte einen Brief an den ägyptischen Präsidenten mit der Bitte, alles zu tun, um Schaden von Ihnen abzuwenden.

Ich bin sehr dankbar für diese Initiative meiner Freunde in Deutschland. Das Unterstützungskomitee ließ mich fühlen, daß die Krise, die ich jetzt mit meiner Frau durchzustehen habe, nicht nur die persönliche Krise von Abu Said oder die der ägyptischen Gesellschaft ist, sondern eine Krise der gesamten zivilisierten Welt.

Man hört im Westen öfter den Ausdruck „islamische Inquisition“ im Zusammenhang mit Ihrem Fall.

Ich möchte sagen, daß es sich hier um Schlimmeres als Inquisition handelt. Denn damals wurde der Beschuldigte vorgeladen und befragt. Mich hat man weder vorgeladen noch befragt. Wir befinden uns in einem weit rückständigeren Zustand als zur Zeit der Inquisition.

Sehen Sie Chancen für eine islamische Reformation?

Ich glaube schon. Denn die Radikalen gehen zum Mord über. Sie versuchen, ihre Gegner zu liquidieren. Das ist einfach eine Bankrott- erklärung. Sie befinden sich in der Defensive, und deswegen schlagen sie um sich. Aus diesem Grund bin ich sowohl Optimist als auch Pessimist. Auf persönlicher Ebene bin ich pessimistisch, weil mein Leben bedroht ist. Man hat mich zum Abschuß freigegeben, im physischen Sinne. Im allgemeinen aber bin ich optimistisch. Ich bin sicher, daß das, was Abu Said und seinesgleichen in der arabisch-islamischen Welt sagen und tun, nicht sterben wird.

Direkt nach der Urteilsverkündung riefen Ihre Gegner dazu auf, Sie von Ihrem Lehrstuhl zu entfernen.

Die Universität verhält sich mir gegenüber bis jetzt sehr loyal. Sie erlaubte mir nach dem Urteil, meine Arbeit ganz normal fortzusetzen. Sollte das Urteil aber in dritter Instanz bestätigt werden, kann sie ihre jetzige Position nicht aufrechterhalten. Dann muß sie anders handeln.

Spielen Sie mit dem Gedanken zu emigrieren?

Die Emigration kommt für mich noch immer nicht in Frage. Ich halte an meiner Stelle an der Universität fest, solange die Universität mich festhält. Eventuell fahre ich mit meiner Frau zu Studienzwecken ins Ausland. Aber wohin die Reise geht, weiß noch niemand. Viele raten mir zur Vorsicht in meiner Wahl, weil Europa auch radikale Muslime beherbergt. Die Fatwa, in der Al Dschihad mich für vogelfrei erklärt, ist in der Schweiz veröffentlicht worden.

Können Sie sich vorstellen, daß Sie einmal Ihre Thesen widerrufen müssen wie Galileo Galilei?

Nach dem Urteilsspruch habe ich eine Erklärung verfaßt, die in den ägyptischen Zeitungen veröffentlicht wurde. Darin habe ich gesagt, daß ich nicht nur an meinem Glauben als Muslim festhalten werde, sondern auch an meinen Thesen, auf die ich stolz bin. Ich werde nur dann einen Gedanken widerrufen, wenn ich selbst feststellen muß, daß dieser Gedanke falsch ist. Nur dann.

Interview: George Khoury

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