: Die Überlebenden suchen die Toten
In der westbosnischen Region um Kljuc entdeckten bosnische Soldaten drei Massengräber. Insgesamt könnten es rund zwanzig sein. 1.000 Muslime und Kroaten sollen hier begraben liegen ■ Aus Kljuc Erich Rathfelder
Schaufel für Schaufel wird die nasse Erde abgetragen. Zuerst erscheint ein dunkel gefärbter Schädel, dann andere Teile eines längst verwesten Körpers. Als ein zweiter Schädel auftaucht, hört Sejfudin Alibagić mit dem Graben auf. „Das weitere sollte von einer Kommission von Fachleuten ausgegraben werden“, sagt der 25jährige Soldat der bosnischen Armee, der seit der Wiedereroberung des westbosnischen Gebietes um Kljuc vor zehn Tagen auf der Suche nach den Spuren der 1992 verschwundenen Mitbürger ist.
„Hier sind vermutlich 150 bis 170 Menschen begraben, die aus den umliegenden Dörfern, vor allem aber aus dem Dorf Biljani stammen. Leichen wurden in der Zeit vom Mai bis zum Dezember 1992 hier in die Höhle hineingeworfen.“
Auch der 22jährige Ahmed Ergelić ist für diese Aufgabe abgestellt. Er vermutet, daß es noch weitere 20 Massengräber in der Region gibt. „Gefunden haben wir bisher die Gräber in den Dörfern Zrvena Zemlja und Prhovo.“ Die 560 Muslime und Kroaten aus dem einmal 37.000 Einwohner zählenden Bezirk Kljuc, die, da mit Serben verwandt, hier bleiben konnten und die serbische Besatzungszeit überlebt haben, „geben uns laufend weitere Informationen über mögliche Orte des Grauens in diesem Gebiet“.
Bisher vermuteten er und sein Kollege, es handele sich um rund 1.000 Menschen, die damals im Bezirk Kljuc ermordet wurden. „Das sind vor allem Frauen, Kinder und alte Leute. Die getöteten Männer, die in die Lager abtransportiert und dort ermordet wurden, sind in dieser Zahl nicht enthalten.“ Viele Orte des Gebiets können freilich immer noch nicht gefahrlos besucht werden, noch ist der Krieg nicht vorbei.
In der ehemals 20.000 Einwohner zählenden Stadt Kljuc kommen Busse aus Bihać, Slowenien und Österreich an. Immerhin können die jetzt zu einem Besuch zurückkehrenden Flüchtlinge ihre Stadt wiedererkennen. Es ist verhältnismäßig wenig zerstört worden. Da die serbischen Truppen die Stadt im Mai 1992 fast kampflos erobert hatten und auch die Bosnier vor wenigen Tagen, am 14. September, ebenfalls fast kampflos wieder einrückten, sind lediglich die Fensterscheiben an der Hauptstraße kaputtgegangen. Auch die orthodoxe Kirche im Stadtzentrum ist stehen geblieben, ein bosnischer Soldat ist zu ihrer Bewachung abgestellt. Von der katholischen Kirche allerdings und den Moscheen in der einstmals mehrheitlich von Muslimen bewohnten Stadt sind nur noch Ruinen oder gar nichts mehr zu sehen.
Hrvoje P. hat die Zeit seit 1992 unbeschadet überstanden. „Weil meine Frau sich zum orthodoxen Glauben bekennt – wir sind 42 Jahre verheiratet – konnte ich als römischer Katholik überleben. Aber wir hatten immer wieder Angst.“ Der über 60jährige Mann bedauert, daß alle serbischen Familien aus seinem Haus gegangen sind. „Manche wollten nicht, aber sie wurden von den serbischen Soldaten aufgefordert, zu gehen.“ Alle serbischen Zivilisten hätten am 12. September die Stadt verlassen. „Einige Freunde, zwei kroatische und zwei muslimische Familien, kamen zu uns, wir blieben in unserem Wohnzimmer, bis die serbischen Soldaten abgezogen sind. Dann endlich kamen unsere Truppen.“
Gelebt hatten er und seine Familie von der humanitären Hilfe, die über die Caritas verteilt wurde. Auch serbische Nachbarn hätten ihnen ab und zu etwas zugesteckt, sagt er anerkennend. „Es war aber wenig. Ich bin froh, daß alles endlich vorbei ist.“
Die Offensive ist zum Stillstand gekommen
In der Ferne ist das Grollen der Artillerie zu hören. Es sind aber nur einzelne Gefechte, die jetzt noch ausgetragen werden. Die Offensive der bosnischen Armee ist hier in der Region zum Stillstad gekommen. Die „Armija“ steht acht Kilometer vor der nördlich gelegenen Stadt Sanski Most und bewegt sich langsam die Straße entlang in östlicher Richtung zur Stadt Jajce.
„Es kommt uns zur Zeit vor allem darauf an, die zurückeroberten Gebiete zu konsolidieren.“ Der 30jährige Enes Zalihović gehörte zu dem ersten Trupp bosnischer Soldaten, der in Kljuc eingezogen ist.
Inzwischen ist er in den zivilen Sektor der Stadt übergewechselt und Vizebürgermeister geworden. „Die Wasserversorgung konnten wir schon wieder herstellen, Strom gibt es, wie im gesamten Gebiet, immer noch nicht.“ Neben den 560 gebliebenen Einwohnern und dem Militärpersonal seien auch einige wenige ehemalige Vertriebene schon wieder zurückgekehrt. „Wie ich selbst, ich hatte hier vor dem Krieg eine Druckerei.“
Enes Zalihović ist voller Energie. „Ohne meine Energie hätte ich das Lager Manjaca und dasjenige von Bijeljina nicht überlebt.“ Noch immer spüre er die Spuren der Folter in den Beinen und im Rücken. Neun Monate sei er in Österreich als Folteropfer behandelt worden. Jetzt jedoch wolle er den Wiederaufbau der Region einleiten. „Wir wollen unsere Holz- und Textilindustrie wiederbeleben, wir wollen die Stadt renovieren. Helfen Sie uns, ob mit einer Ausrüstung für die Radiostation oder für das Krankenhaus. Wir wollen, daß die serbische Zivilbevölkerung zurückkommt, alle können hier leben, nur die Verbrecher wollen wir nicht mehr hier sehen.“
Plötzlich steigen Rauchschwaden in der Ferne auf. Es ist der Rauch brennender Häuser. Diese stehen in der Nähe des Dorfes Biljani, dem Ort, aus dem viele der in der Höhle vergrabenen Opfer gestammt haben müssen. Ein Auto mit slowenischen Kennzeichen rast davon. Überlebende Vertriebene haben vermutlich serbische Häuser angezündet, erklärt ein bosnischer Offizier. Es sind die ersten brennenden Häuser in den zurückeroberten Gebieten. „Es bringt uns nichts, wenn wir Rache üben“, sagt er bedauernd.
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