: Jenseits des Schallala
Sie charakterisieren sich als neokonservativ und haben Erfolg: Die Kerntruppe von Theater Affekt – ein Porträt zwischen zwei Premieren ■ Von Petra Brändle
Irgendwann am Morgen nach der Premiere, beim Existentialistenfrühstück mit Aspirin, Kaffee und Orangensaft, fällt der Satz: „Eigentlich wollen wir die Weltherrschaft.“ Ein kurzes Stocken, die drei sehen sich an, lachen. „Ja, genau, das ist es eigentlich.“ Eine geheime Freude über den Schauer, den solch ein Satz auslöst, macht sich breit, legt sich über die Ratlosigkeit, die einen Moment zuvor noch im Raum stand.
Offensichtlich ist es so, daß die Frage, was junge Theatermacher mit ihrem Theater wollen, im Jahr 1995 „ungestraft“ nicht mehr gestellt werden kann. Meist trifft die Frage einen wunden Punkt. Schließlich hat die Generation 1 des Off-Theaters gerade bis zum Abwinken vorgespielt, daß politische Postulate im Zuschauerraum versacken. Illusionen kann man sich da nicht mehr erlauben.
Und seitdem Frank Castorf die Mittel und Ästhetik des Offtheaters im subventionierten Raum zur Raserei und Perfektion treibt, hängen die meisten jungen Offler irgendwo zwischen Schnürboden und Unterbühne. Nicht so das Theater Affekt.
Theater Affekt, das sind die Regisseure Stefan Bachmann und Lars-Ole Walburg, der Dramaturg und Autor Thomas Jonigk (vgl. auch das Porträt in der taz vom 27.1.1995) sowie Ricarda Beilharz (Bühne, Ausstattung) und Tom Till (Produktionsleitung) – alle zwischen 1964 und 1966 geboren. Auf der Studiobühne der FU Berlin begann 1992 mit Brechts „Baal“ die Affekt-Historie.
Heute holt sich der feste Kern der Gruppe für einzelne Produktionen teils erprobte Affekt- SchauspielerInnen, teils neue; Kontinuität und „frisches Blut“ sollen der Qualität der Inszenierungen zugute kommen. Mit einer „Jetzt erst recht“-Haltung machen sie Theater, geträumt wird Breitband-Super-de-Luxe. Vom Erfolg, von Zuschauern, „die zahlen und klatschen“, von der Welt.
Sie wollen sogar die Bibel inszenieren
Gearbeitet wird mit traditionellen, leisen Theatermitteln fernab der Zertrümmerungspose. Ihnen hätten sie wieder gelernt zu trauen. Als „neokonservativ“ charakterisieren sie sich deshalb. Zurück zur Poesie, zur Sinnlichkeit, vor allem zurück zum Schauspieltheater und zu einem dramaturgisch präzisen Konzept als Basis einer Inszenierung, so umreißen die Affekt- Theatermacher Bachmann, Walburg und Jonigk ihren Stil. So gehen sie die „Brüche“ an, denen auch sie sich als „Kinder ihrer Zeit“ ausgesetzt fühlen. Im Gegensatz zum allgemein üblichen postmodernen Getöse auf der Bühne spielen sie mit Langsamkeit und Ruhe.
Konzentrationsmittel hierzu sind „filmische“ Kunstgriffe: Die Taschenlampe auf der Bühne ersetzt die Großaufnahme. Parallelhandlungen geraten zur Montage, Brüche in Stilart und Tempo sind wie Cuts, die den Spannungsbogen nur noch stärker dehnen. Damit gehen sie neue Stücke an, ebenso wie die Patina altbekannter oder fast vergessener Klassiker. (Mit einem unverbesserlichen Hang zum Abseitigen plant die Truppe gar, die gesamte Bibel zu inszenieren. Klar, daß man bei dem Aufwand noch KoproduzentInnen sucht...) Stets begegnen sich in den Inszenierungen Ironie und Romantik, Intellekt und Trivialität, oder ganz einfach: Kopf und Bauch.
Bislang vertrauten sie diesen Mitteln mit großem Erfolg. Mit „Titus Andronicus“ (1992/93, u.a. am Theater am Halleschen Ufer) und „Lysistrate“ (1993 im „Fliegenden Theater“) sowie „Oidipus“ und „Penthesilea“ (beide 1994 im „Theater Zerbrochene Fenster“) gewann Theater Affekt nicht nur Publikum und Kritik für sich, sondern auch den Beirat für freie Gruppen der darstellenden Kunst, der dem Senat jeweils eine Projektförderung nahelegte. Im Juni wurde ihnen nun eine Optionsförderung bis 1998 in Höhe von 275.000 Mark jährlich zugeteilt.
Daneben streckt die Gruppe ihre Fühler ohne Schwellenangst oder Off-kultige Vorbehalte in Richtung Stadttheater aus. Stefan Bachmann inszenierte in der Volksbühne und auch am Schauspiel Bonn, unter anderem die Aufführung von Thomas Jonigks Stück „Du sollst mir Enkel schenken“.
Eine Inszenierung, die sowohl zum Heidelberger Stückemarkt als auch nach Mühlheim auf das Festival „stücke 95“ eingeladen wurde. Demnächst gibt Bachmann in seiner Geburtsstadt am Zürcher Neumarkttheater sein Debüt. In unterschiedlichen Konstellationen sind bei diesen Stadttheaterausflügen jeweils andere Affekt-Mitglieder beteiligt.
Zwischen Klo und Hammondorgel
Im dritten Stock der Volksbühne indes hatte eben der zweite Regisseur der Gruppe, der Rostocker Lars-Ole Walburg, mit „Das dritte Rom“ Premiere. Auch hier, in dem Stück des 1955 geborenen russischen Autors Alexander Sepljarskij, geht es um Brüche, um Identitätskrise und Sinnsuche. Sepljarskij zerstört jegliche Hoffnung, die in der russischen Geistesgeschichte mit Moskau als „drittem Rom“ verbunden wird. „Auf, nach Moskau“, souffliert Tschechow, in Moskau wird alles besser. Doch glauben kann ihm niemand mehr.
„Moskau“ ist unerreichbar für die fünf verlorenen Gestalten, die sich mal mehr, mal weniger intensiv dem Alkoholgenuß widmen. Der Verweis auf die Generation X liegt nahe; das Programmheft ist ein Comic, und auf der Bühne finden sich allenthalben Anleihen aus dem Repertoire jugendlich-modischer „Musts“. Die Hure Xenija trägt Latex und den BH über dem Kleid. Klar, die Geschlechter sind fragmentisiert, wir tragen vor uns her, was wir nicht mehr sind.
Auf der schiefen Bühne wird ein Tanz um leere Flaschen und ein einsames Klo gegeben. Hier, auf der Schüssel, wohnt das Gefühl, und das ist traurig und so beschissen wie die Liebe zwischen Bruder und Schwester.
Wahnsinn heute und in Goethes Singspiel
Jegor hingegen spielt Weihnachtslieder und Siebziger-Schmonzetten auf der Hammond-Orgel. „Radical Easy Listening“-Sound auf der Bühne, das klingt zunächst nach Anbiederung; was damit ausgedrückt werden soll, ist leicht zu durchschauen. Eben so leicht, wie es sich mit soften Melodien dem grauen Alltag entfliehen läßt.
Doch beim Spiel der fünf vergißt man zunehmend die Schubladen, die hier (bewußt) gezogen werden. Die Stereotypie des Jugendbildes wird aufgelöst, und das ist vor allem dem irrsinnigen Spiel von Lars Rudolph zu verdanken. Sein Jegor ist ein fragiles Männchen, bedrohlich und komisch zugleich. Eine ärmliche Kreatur, die als Mann in dieser Welt nicht ernst genommen und als Freund nur ausgenützt wird. Keine Sekunde verliert er die Spannung, mit der er sich im Grenzbereich des Wahnsinns hält. Es ist eine zwiespältige Lust, ihm zuzusehen.
Um den Wahnsinn geht es auch in der nächsten Premiere der Affekt-Gruppe am 5. Oktober im Theater Zerbrochene Fenster. Stefan Bachmann inszeniert Goethes beinahe vergessenes Singspiel „Lila“. Lila (in der Farbpsychologie die Melancholie) verfiel dem Wahnsinn, als sie irrtümlich die Nachricht erreicht, ihr Mann sei tot. Um den Wahnsinn zu kurieren, inszeniert die höfische Gesellschaft Lila's Wahn, der ihr bedeutete, sie müsse ihren Liebsten aus den Klauen eines Dämonen befreien. Bei Goethe geht dies alles recht reibungslos im Schallala unter.
Die Inszenierung jedoch spitzt auf der Basis einer Texterweiterung von Thomas Jonigk die Konflikte der Personen sowie die Diskussion um die Wirkung therapeutischer Methoden zu. „Total eingefühlt“ spielt die Gruppe ihre Probleme aus, exakt den Jargon einer Horror-Proto-Therapie-Szene treffend. Herrlich. Das betuliche Singspiel, von Hanno Hackfort mit aggressiven bis rockigen Melodien versehen, schlägt so völlig neue Töne an.
Und was wäre ein besserer Gradmesser für die Kreativität und Qualität einer Gruppe als die Fähigkeit, aus einem seichten Singspiel ein spannendes und frech inszeniertes Gegenwartsstück zu machen? Der Probenbesuch läßt hoffen.
„Das dritte Rom“ von Alexander Sepljarskij wird im 3. Stock der Volksbühne noch bis 7.10. gezeigt, „Lila“ von Goethe hat am 5.10. im Theater Zerbrochene Fenster Premiere.
Kontakt Theater Affekt:
Telefon: 2188330.
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